Das Rätsel der Fatima
auszustoßen.
Ahmad schloss die Augen und atmete mit geballten Fäusten tief ein. In diesem Moment lag das Leben des Schreibers in seiner Hand. Es war nicht mehr wert als eine Prise Sand zwischen seinen Fingern oder eine Mücke, die er mit einer einzigen Bewegung seines Daumens zerquetschen konnte.
Bei Allah, was für ein erhebendes Gefühl. Wie sehr genoss er die Macht, die er über diesen Mann hatte.
Ahmad öffnete seine Fäuste und stieß langsam die Luft wieder aus. Es war vorbei. Die Tage der Bruderschaft waren vorüber. Sogar damals, in jenen glücklichen Tagen, als alles noch seine Ordnung hatte, hätte er erst um die Erlaubnis des Großmeisters gebeten, bevor er diesen Mann getötet hätte. Und jetzt musste er vorsichtig sein. Jetzt hatten die Mongolen dafür gesorgt, dass er sich wie ein Dieb verstecken musste. Allahs Fluch möge sie treffen! Er vermisste diese glücklichen Tage, und dann tat es gut, sich wieder daran zu erinnern.
Ahmad beugte sich vor und blies seinen Atem in den Nacken des Schreibers. Jiang Wu Sun stieß einen hohen, spitzen Schrei aus, sprang auf, verhedderte sich in seinem langen steifen Übergewand und fiel zu Boden. Dort lag er nun auf dem Rücken, zusammengekrümmt und mit allen vieren strampelnd, und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen.
Er sieht aus wie ein fetter Käfer und kreischt wie ein Weib, dachte Ahmad und betrachtete den Schreiber voller Verachtung.
»Tu mir nichts«, wimmerte Jiang Wu Sun und verbarg sein Gesicht hinter seinen fleischigen Händen. »Ich flehe dich an, tu mir nichts! Ich gebe dir auch alles, was du willst – Geld, Juwelen, ich kann dir sogar einen einflussreichen Posten am Hof des Khans besorgen. Nur bitte, bitte…«
Ahmad holte tief Luft. Wenn er auch bislang nicht vorgehabt hatte, den Schreiber zu töten, so war er sich jetzt nicht mehr so sicher. Dieses Gewinsel zerrte an seinen Nerven.
»Ich will dir nichts tun«, unterbrach er den Mann und zog seinen Umhang wieder fest um sich, sodass die zahlreichen Waffen an seinem Gürtel verborgen waren. Es war besser, wenn niemand davon wusste. »Beruhige dich, Jiang Wu Sun, und steh auf.«
Überrascht sah ihn Jiang Wu Sun durch seine gespreizten Finger hindurch an. »Ahmad?«, fragte er ungläubig. »Ist es keine Täuschung, du bist es wirklich?«
»Ja.«
Ahmad reichte ihm seine Hand und zog den Chinesen wieder auf die Füße. Es war ein gutes Stück Arbeit, denn der Schreiber mochte in etwa so viel wiegen wie ein Mastochse.
»Aber warum bist du hier? Was machst du hier in der Schreibstube mitten in der Nacht?«
»Das Gleiche könnte ich dich auch fragen«, entgegnete Ahmad kühl und ärgerte sich über sich selbst. Warum hatte er den fetten Chinesen nicht einfach in Ruhe bei seinem Talglicht sitzen lassen können? Er hätte sich einfach ebenso still und heimlich, wie er gekommen war, wieder davonschleichen können. Und vermutlich hätte Jiang Wu Sun niemals erfahren, dass er in dieser Nacht nicht allein in der Schreibstube gewesen ist. »Was machst du hier nachts, wenn alle anderen schlafen?«
Jiang Wu Suns Gesicht überzog sich mit flammender Röte. »Das geht dich überhaupt nichts an!«, fauchte er und sah in diesem Augenblick ebenso grimmig aus wie diese hässlichen Fu-Hunde, welche die Chinesen so verehrten und die überall als Statuen die Eingänge bewachten.
Ahmad hob spöttisch eine Augenbraue. »Dich ebenso wenig.«
Jiang Wu Sun klappte seinen Mund wieder zu und ähnelte jetzt einem mürrischen Karpfen.
»Um noch mehr Unannehmlichkeiten zu vermeiden«, fuhr Ahmad fort, »schlage ich folgende Regelung vor: Du gehst deiner Arbeit weiter nach und lässt mich meine verrichten. Und wir beide vergessen, dass wir jemals den anderen gesehen haben. Was hältst du davon?«
Jiang Wu Sun dachte kurz nach, dann nickte er. Der Schreiber mochte fett sein, dumm war er nicht.
»Also gut. So werden wir es machen. Wenn du es aber jemals wagen solltest…«
Er hob drohend seinen Zeigefinger. Ahmad musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut zu lachen. Womit wollte Jiang Wu Sun ihm drohen, ihm, einem ausgebildeten und vom Großmeister selbst auserwählten Fidawi? Das war nicht einmal beleidigend, das war einfach nur lächerlich.
»Ja, ja, ja, du kannst dich auf mich verlassen«, erwiderte Ahmad und gähnte gelangweilt. »Und nun geh wieder an deine Arbeit.«
Er wandte sich um und ließ Jiang Wu Sun stehen. Während er die Reihen der Schränke entlangschlenderte und versuchte, mithilfe
Weitere Kostenlose Bücher