Das Rätsel der Fatima
Geister umgehen«, meldete sich hinter ihnen eine Stimme zu Wort. Beatrice und Maffeo wandten sich um. Vor ihnen stand Marco. »Sie sagen, es sind die Geister der chinesischen Arbeiter, deren Blut die Fundamente der Stadt tränkt. Viele glauben, allen voran Dschinkim, der Thronfolger, dass sie den Mongolen nicht unbedingt wohlgesonnen sind und ihnen Verderben bringen werden.«
Er lächelte, und Beatrice spürte, wie allein seine Gegenwart ihr wieder die Röte ins Gesicht trieb. Und dann ergriff er sogar ihre Hand, leicht, fast zärtlich. Es war eine Berührung, die sie elektrisierte.
Denk an deinen Traum, denk an Saddins Warnung, ermahnte sie sich und versuchte vergeblich, ihm die Hand wieder zu entziehen. War er nur zufällig im Kartenraum, oder hatte er ganz genau gewusst, dass er Maffeo und sie hier antreffen würde?
»Seid gegrüßt, Onkel«, sagte er fröhlich. »Es freut mich, Euch zu sehen. Am größten ist jedoch meine Freude, Euch zu sehen, Beatrice. Ihr seid wie der junge Frühling. Von Tag zu Tag scheint Ihr schöner zu werden.« Marco verneigte sich lächelnd vor Beatrice und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken. »Was tut ihr zwei hier einsam und allein im Kartenraum?«
Maffeo räusperte sich. »Ich wollte Beatrice das Modell von Taitu zeigen.«
»Ja, wahrlich ein Meisterwerk«, sagte Marco und sah auf die Miniaturstadt hinab, ohne Beatrices Hand loszulassen. »Fünfzig Arbeiter haben ein volles Jahr gebraucht, um aus kleinen, eigens für das Modell gebrannten Lehmziegeln, Marmorstücken und Holz die Stadt anhand der Zeichnungen der Baumeister aufzubauen. Sie haben sich wirklich sehr bemüht. Trotzdem ist es ihnen nicht gelungen, der Wirklichkeit auch nur nahe zu kommen.«
»Ihr wart schon in Taitu?«, fragte Beatrice.
»Ja«, antwortete Marco, als wäre es nichts Besonderes. »Khubilai führt bereits seit einiger Zeit einen Teil seiner Regierungsgeschäfte von der ›Großen Stadt‹ aus. Und als Mitglied der Ehrengarde ist mein Platz stets an seiner Seite, ganz gleich, ob er sich in der Wüste aufhält oder in Taitu.«
Beatrice sah Marco forschend an. Etwas in seiner Stimme klang ironisch, so als würde er sich über den Khan und die höfischen Protokolle lustig machen.
»Beatrice, komm«, sagte Maffeo. Er zog die Augenbrauen zusammen und rieb sich die Stirn, als litte er plötzlich unter Kopfschmerzen. »Es geht bereits auf die Mittagszeit zu und…«
»Lieber Onkel, gebt Ihr mir die Erlaubnis, Euren Gast heute zu entführen?«, fragte Marco. »Beatrice, würdet Ihr mir die Ehre erweisen und heute mit mir speisen? Mein Onkel wird wegen der bevorstehenden Abreise sehr beschäftigt sein und Euch nicht einmal einen Bruchteil der Aufmerksamkeit widmen können, die Ihr verdient.«
Beatrice wurde wieder rot und ärgerte sich über sich selbst. Dieser Kerl war unverschämt, er war eingebildet. Aber er sah gut aus, er hatte Charme und ausgezeichnete Manieren. Und außerdem war er Marco Polo. Man bekam schließlich nicht jeden Tag die Gelegenheit, mit einer so wichtigen historischen Persönlichkeit zu speisen.
»Nun, werdet Ihr nicht auch viel zu tun haben?«, fragte Beatrice. Ein überaus schwacher, halbherziger Versuch, Widerstand zu leisten, das musste sie sogar selbst zugeben. Aber wenigstens versuchte sie es.
Marco lachte. Es war ein angenehmes, sympathisches Lachen. Und dieses Lachen spülte Saddins warnende Worte einfach mit sich fort.
»Nein. Der Großteil meines Besitzes befindet sich bereits seit zwei Jahren in Taitu. Und den kläglichen Rest packen meine Diener auch ohne meine Hilfe zusammen. Also, was ist? Macht Ihr mir die Freude? Bitte!«
Marcos Augen flehten sie an, sie lagen förmlich auf Knien vor ihr. Die letzten Reste ihres Widerstands schmolzen dahin. Gegen diesen Blick war sie machtlos.
»Gern«, antwortete Beatrice und versuchte Maffeos missbilligenden Blick zu ignorieren.
»Gut, dann lasst uns gehen«, sagte Marco und bot ihr seinen Arm an. »Verehrter Onkel, Ihr entschuldigt uns?«
Beatrice hakte sich bei Marco unter und ging gemächlich mit ihm davon.
Ein paar Stunden später saß sie Marco gegenüber auf einem niedrigen Schemel. Sie tauchte ihre Hände in eine Schüssel mit klarem Wasser, tupfte sich den Mund und trocknete sich mit einem weißen Tuch ab, das ihr eine Dienerin reichte. Sie war satt und zufrieden. Obgleich Maffeos Koch jeden Tag sehr leckere Sachen für sie zubereitete, hatte sie schon lange nicht mehr so gut und ausgiebig gespeist. Marco hatte
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