Das Rätsel der Fatima
davor, einzuschlafen.
Dabei gab es keine Ungeheuer oder Vampire. Das war irrational, das Resultat ihrer blühenden Fantasie, nichts weiter. Doch die Stimme der Vernunft war leise und schwach. Wenn sie ehrlich war, zweifelte sie keinen Augenblick daran.
Nach einer Weile sah Beatrice ein, dass es zwecklos war. Erst wenn das Tageslicht und das normale Leben genügend Zeit zwischen sie, diesen entsetzlichen Albtraum und die heutige Nacht gebracht hatten, würde sie wieder in der Lage sein, ruhig zu schlafen. Sie stand auf und begann sich zu waschen und anzukleiden. Als sie fertig war, schob sie einen der beiden Stühle näher zum Fenster, setzte sich hin, starrte hinaus und wartete auf den Morgen.
Die Sonne ging gerade auf und verzauberte die Kuppeln und Türme des Palastes mit ihrem Licht, als Ming mit einem Stapel frischer Wäsche im Arm das Zimmer betrat. Ihr Erstaunen darüber, sie bereits fertig angekleidet auf dem Stuhl vor dem Fenster sitzen zu sehen, war unverkennbar.
»Du kommst spät heute, ich habe bereits auf dich gewartet«, sagte Beatrice und war gespannt darauf, wie Ming sich heute verhalten würde. So vor zwei untergebenen Dienerinnen behandelt worden zu sein, hatte die Alte sicher in ihrer Ehre gekränkt. Trotzdem hatte Beatrice kein Mitleid. Nicht mit dieser kalten, herzlosen Frau. »Hat man dir nichts gesagt?«
Ming runzelte die Stirn. »Was gesagt?«
»Das Gefolge des Khans wird in wenigen Tagen aufbrechen und nach Taitu übersiedeln«, antwortete Beatrice. »Wir sollten zeitig damit beginnen, alles reisefertig zu verpacken. Es wäre eine unverzeihliche Schande, wenn sich ausgerechnet unseretwegen die Abreise verzögern würde.«
Natürlich entsprach das nicht der Wahrheit, niemand hatte gesagt, dass sie sich beeilen mussten. Aber Beatrice konnte nicht anders. Sie genoss es geradezu, der Alten ihre Arroganz und Überheblichkeit heimzuzahlen.
Die faltigen Wangen der Chinesin färbten sich zartrosa, in ihren braunen Augen funkelte blanker Hass. Sie presste ihre schmalen Lippen aufeinander und verneigte sich kurz.
»Niemand hat mir gesagt«, erwiderte sie, legte die Wäsche auf die Kommode und betrachtete Beatrice mit missbilligend gerunzelter Stirn. »Das ist nicht richtig, nicht richtig angezogen. Du mich rufen sollst, wenn du in Eile bist.«
Mit strengem Gesicht korrigierte sie nun all die Fehler, die Beatrice in ihrer Unwissenheit und mangelnden Bildung beim Ankleiden begangen hatte. Dabei zog die Alte einige der Bänder so straff an, dass Beatrice fast schwarz vor Augen wurde. Trotzdem lächelte sie. Endlich hatte sie es geschafft, die alte Ming in Verlegenheit zu bringen. Und das war mehr wert als alles andere.
»Nun richtig!«, sagte Ming schließlich, und ein böses Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich verspreche, morgen ich werde rechtzeitig da sein und beim Anziehen helfen.«
Beatrice war sprachlos. Diese alte Hexe, dachte sie wütend. Immer muss sie das letzte Wort haben.
Aber sie ärgerte sich auch über sich selbst. Warum nur hatte sie nicht einfach den Mund halten können? Sie kannte doch die alte Chinesin mittlerweile gut genug. Jetzt hatte sie es sich selbst zuzuschreiben, wenn Ming sie in Zukunft bereits vor Sonnenaufgang aus dem Bett zerren würde.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür.
»Guten Morgen, Beatrice«, sagte Maffeo.
Täuschte sie sich oder sah er heute Morgen besonders grau und alt aus? Da waren dunkle Schatten unter seinen Augen, und seine Wangen wirkten eingefallen. Vielleicht war er krank?
»Es freut mich, dass du bereits fertig angekleidet bist«, fuhr er fort. »Khubilai hat soeben allen seinen Untertanen verkünden lassen, dass wir in drei Tagen nach Taitu aufbrechen werden.« Er seufzte, doch Beatrice hatte nicht den Eindruck, dass es daran lag, dass er Shangdou nachtrauerte. Ihn bedrückte etwas anderes. Ob es mit Marco zu tun hatte? »Wir werden uns beeilen müssen. Drei Tage sind eine sehr kurze Zeit, um alles zu verpacken. Es sind so unglaublich viele Kleinigkeiten – das Geschirr, die Möbel, die Bilder. Ming, würdest du…«
Die Alte verbeugte sich. »Ich werde Kisten und Decken holen lassen. Herr kann sicher sein, dass ich mich um alles kümmern werde.«
Sie richtete sich wieder auf und trippelte mit hoch erhobenem Kopf davon. Überrascht sah Beatrice ihr nach. Sie hatte den Eindruck, dass Ming sich fast über den bevorstehenden Umzug freute. Da war plötzlich so ein seltsames Leuchten in den Augen der alten Chinesin gewesen. Aber
Weitere Kostenlose Bücher