Das Rätsel der Fatima
Dschinkim ungeduldig und starrte den kleinen Chinesen so finster an, als würde er ihm unterstellen, dass er nur aus einem einzigen Grund so dünn war, nämlich um unter seiner weiten Kleidung einen Dolch verbergen zu können. »Beatrice, die Frau aus dem Norden des Abendlandes, soll auf ausdrücklichen Wunsch und Befehl des Kaisers, des ehrwürdigen Khubilai Khans, die chinesischen Ärzte in ihrer Heilkunst unterrichten. Bringe uns auf der Stelle zu ihnen.«
»Sehr wohl«, erwiderte der Junge und verneigte sich erneut. »Der hoch geschätzte Lo Han Chen und der weise Li Mu Bai erwarten Euch bereits in der Halle der Morgenröte.«
»Wenn Ihr erlaubt, edler Dschinkim«, sagte Maffeo und verneigte sich, als wäre er ein gewöhnlicher Diener und nicht ein enger Freund des Mongolen, »so würde ich gern in den Garten gehen und dort auf Euch warten.«
Dschinkim nickte hoheitsvoll. »Ich gestatte dir, dich zu entfernen«, entgegnete er. Doch Beatrice hatte den Eindruck, dass er sich Mühe geben musste, ernst zu bleiben. Um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch. »Aber schlaf nicht ein. Es könnte sein, dass ich deine Dienste benötige.«
»Sehr wohl, Herr.«
Maffeo verneigte sich, ging ein paar Schritte in dieser Haltung rückwärts, drehte sich dann erst um und verschwand zwischen den Säulen. Beatrice wusste nicht, wozu diese Szene gut sein sollte. Normalerweise unterhielten sich Dschinkim und Maffeo wie zwei gleichgestellte Freunde. Aber der Junge hatte das Ganze offensichtlich aufmerksam beobachtet, denn er verneigte sich vor Dschinkim deutlich tiefer als zuvor.
»Folgt mir bitte.«
Der Junge verbarg seine Hände wieder in den weiten Ärmeln seines Hemds und eilte mit schnellen, trippelnden Schritten vor ihnen her. Vor einer mit kunstvollen Schnitzereien reich verzierten Tür blieb er stehen.
»Verzeiht, aber nur die Frau darf die Halle der Morgenröte betreten. Ich möchte Euch bitten, so lange hier zu warten und…«
»Was höre ich da?«, donnerte Dschinkim, sodass der Junge erschrocken zurückwich. »Hast du hirnloser Trottel bereits vergessen, wen du vor dir hast? Ich bin Dschinkim, der Bruder des Khans. Und ich lasse mir den Zutritt in die Halle der Morgenröte nicht von einem namenlosen Wurm verweigern, dessen Zähne vor Angst klappern wie die Rassel eines Babys. Du hast die Wahl. Entweder du lässt mich hinein, oder morgen früh wird dein Kopf die Zinnen des Palastes schmücken.«
»Aber Herr, ich…«
Dschinkim zog seinen Krummsäbel aus der Tasche und trat näher an den Jungen heran.
»Überleg dir gut, was du jetzt sagst oder tust«, fiel er ihm ins Wort und berührte mit der Spitze den Hals des Kindes. »Ich habe nicht viel Geduld mit deinesgleichen.«
»Aber Lo Han Chen und…«
»Ihre Köpfe werden neben deinem den Glanz der Morgenröte sehen, solltest du meine Zeit noch länger unnötig vergeuden!«
Der Junge wurde bleich wie ein Laken. »Sehr wohl, Herr, wie Ihr wünscht, Herr. Aber vorerst muss ich den geschätzten Lo Han Chen…«
»…davon in Kenntnis setzen, dass ich komme?«, unterbrach ihn Dschinkim. »Warum? Hat er etwas zu verbergen? Plant er da drinnen etwas, wovon ich nichts wissen sollte?«
Jetzt begann der Junge sichtbar zu zittern. Vor lauter Angst schien der Kleine nicht mehr zu wissen, was er tun sollte.
»Nein, Herr, natürlich nicht, Herr, ich…«
»Dann spute dich, öffne die Tür und lass uns hinein in die Halle der Morgenröte.«
»Ja, Herr, natürlich, Herr.«
Während der Junge sich mit zitternden Händen an dem großen schweren Riegel zu schaffen machte, steckte Dschinkim seinen Krummsäbel in die lederne Scheide zurück. Beatrice sah ihn überrascht an. Dschinkim lächelte. Sie hatte den Mongolen noch nie zuvor lächeln sehen. Es war erstaunlich, wie sich dadurch sein Gesicht veränderte und er zu einem attraktiven Mann wurde. Und als sich ihre Blicke trafen, funkelten seine grünen Augen vor Vergnügen wie die einer Katze, die mit einem Wollknäuel gespielt hat.
Der Junge öffnete die Tür und ließ sie eintreten. Beatrice wusste nicht, welche Vorstellung sie von der Halle der Morgenröte gehabt hatte, aber sie hatte nicht erwartet, in einer Art Krankenhaus zu stehen.
Der Raum hatte etwa die Größe einer Turnhalle. Die Kranken lagen in fünf langen Reihen dicht nebeneinander auf niedrigen, mit Strohmatten und dünnen Laken bedeckten Bettgestellen. Eine Gruppe von etwa einem Dutzend Männern stand in der Nähe der Tür und sah ihnen entgegen. Sie
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