Das Rätsel der Fatima
würde.
Jetzt nur keinen Fehler machen, dachte sie. Dies ist eine Prüfung. Und nicht nur du allein, sondern die moderne Medizin und die westeuropäische Zivilisation überhaupt werden beurteilt.
»Mit welchen Symptomen hat seine Krankheit begonnen?«, fragte sie und hoffte, dass ihre Stimme vor Nervosität nicht allzu sehr zitterte. Sie hasste Prüfungen fast noch mehr als Spinnen.
Li Mu Bai neigte leicht den Kopf. »Wenn du es wissen musst, dann werde ich es dir erzählen«, sagte er, und Beatrice fragte sich, ob chinesische Ärzte darauf verzichteten oder es vielleicht gar nicht nötig hatten, vor der Untersuchung ihre Patienten zu befragen. »Im Sommer fing es damit an, dass er nichts mehr essen konnte. Jeden Bissen gab er wieder von sich.«
»War Schleim oder Blut dabei?«, fragte Beatrice und biss sich gleich darauf auf die Lippe. Warum hatte sie nicht einfach so lange warten können, bis er fertig war? So einen Fehler durfte sie auf keinen Fall ein zweites Mal machen.
»Eine gute Frage«, entgegnete Li Mu Bai. Wenn er sich über die Unterbrechung seiner Rede ärgerte, so ließ er es sich nicht anmerken. Er lächelte immer noch wie eine Buddhastatue. »Aber das kam erst später. Zu dem Zeitpunkt war er noch…«
In diesem Augenblick erschien der junge chinesische Diener wieder.
»Vergebt mir die Störung«, sagte er und verbeugte sich tief vor Li Mu Bai und den anderen Herren. »Im Garten wartet ein Mann. Er bittet in aller Höflichkeit, mit dem weisen Li Mu Bai sprechen zu dürfen.«
Der kleine Mönch neigte wieder den Kopf. »Richte ihm aus, ich komme zu ihm, sobald ich hier fertig bin. Er soll sich noch etwas gedulden.«
»Verzeiht, Herr, aber er sagt, es ist von größter Wichtigkeit, so dass es keinen Aufschub duldet.« Der Junge trat von einem Fuß auf den anderen. »Er bittet Euch vielmals um Vergebung, aber er muss darauf bestehen, Euch auf der Stelle zu sprechen.«
Li Mu Bai runzelte die Stirn. »Dann werde ich wohl gehen müssen.« Er warf Beatrice einen Blick zu, als wollte er sich bei ihr entschuldigen, und eilte mit dem Jungen davon.
Beatrice sah ihm sehnsüchtig nach. Sie hatte den Eindruck, dass mit Li Mu Bai auch der letzte Rest Freundlichkeit und Kollegialität den Raum verlassen hatte. Doch wie schlimm die nächsten drei Stunden tatsächlich werden würden, hätte Beatrice niemals für möglich gehalten.
Sie wartete, ob sich jemand freiwillig bereit erklärte, Li Mu Bais begonnene Schilderung fortzusetzen. Die Minuten verstrichen, und es breitete sich ein peinliches, unangenehmes Schweigen aus, doch keiner der Männer sagte ein Wort. Sie starrten sie mit ihren unbeweglichen Gesichtern an, als hätten sie vor, sie allein mit der Kraft ihrer Blicke einzufrieren. Vielleicht hatten die chinesischen Ärzte es tatsächlich nicht nötig, mit ihren Patienten zu sprechen. Um der frostigen Atmosphäre zu entgehen, wandte sich Beatrice dem Mann zu. Sie kniete sich neben dem niedrigen Bettgestell auf den Boden und ergriff seine Hand. Sie war kalt, feucht und kraftlos.
»Guten Tag, mein Name ist Beatrice. Haben Sie Schmerzen?«, fragte sie und kratzte ihre – immer noch spärlichen – Mongolischkenntnisse zusammen. Doch entweder war der Alte Chinese und verstand kein Mongolisch, oder aber seine Erkrankung war schon so weit fortgeschritten, dass er sich im präfinalen Delir befand. Der Puls an seinem dünnen Handgelenk war kaum noch tastbar.
Beatrice schlug das Laken zurück. Der Mann war nur noch Haut und Knochen, lediglich sein Bauch war aufgetrieben wie ein Ballon. Behutsam legte sie eine Hand auf die Bauchdecke, doch sofort begann der Mann vor Schmerz zu wimmern. Der Bauch war bretthart.
Er hat eine Abwehrspannung, dachte Beatrice und überlegte, welche Diagnosen infrage kämen. Fast jedes in der Bauchchirurgie vorkommende Krankheitsbild konnte im Endstadium solche Symptome zeigen, angefangen von einer Appendizitis bis hin zu einer Krebserkrankung. Zu Hause in Hamburg hätte sie in einem solchen Fall eine ausführliche Blutuntersuchung, einen Ultraschall des Bauchs sowie eine Röntgenaufnahme angeordnet. Nur kurze Zeit später hätte sie die Diagnose gekannt. Sie hätte innerhalb weniger Stunden operieren können. Allerdings bezweifelte sie, dass selbst die moderne Chirurgie und Intensivmedizin noch in der Lage gewesen wären, dem Mann in diesem Stadium das Leben zu retten. Das Beste wäre sicherlich, den Alten einfach in Ruhe sterben zu lassen und ihm nach Möglichkeit die Schmerzen zu
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