Das Rätsel der Fatima
waren alle mit grauen chinesischen Hemden und Hosen bekleidet, trugen lange ärmellose Mäntel darüber und kleine Hüte oder Kappen auf ihren Köpfen.
Vermutlich sind das die Ärzte, dachte Beatrice.
Aber warum waren es so viele? War heute etwa »Chefvisite«, oder kamen sie alle nur aus Neugierde, um die Frau aus dem Norden des Abendlandes zu begaffen?
Die Ärzte sahen ihnen mit unbewegten Gesichtern entgegen. Trotzdem hatte Beatrice den Eindruck, dass sie mit Missfallen und Ablehnung begutachtet wurde.
Diese Männer in der westlichen Schulmedizin zu unterweisen wird bestimmt nicht so einfach werden, wie Khubilai sich das vorgestellt hat, dachte Beatrice.
Sie richtete sich gerade auf und hob ihr Kinn – eine Maßnahme, die sie sich im Laufe ihrer chirurgischen Tätigkeit angewöhnt hatte, wenn ihr Selbstbewusstsein durch frauenfeindliche Sprüche der Kollegen ins Wanken zu geraten drohte.
Unterdessen ging der Junge ein paar Schritte auf die Männer zu und verneigte sich so tief, dass sein Körper fast einen rechten Winkel bildete – eine sehr subtile Art, Dschinkim zu zeigen, wem seiner Ansicht nach im Haus der Heilung die meiste Ehre gebührte. Beatrice warf dem Mongolen einen Blick zu. Natürlich war ihm diese Geste nicht entgangen. Seine Augen flackerten vor unterdrückter Wut. Eine Wut, die Beatrice durchaus nachvollziehen konnte. Dieses Verhalten war mehr als unhöflich, und sie fragte sich, was Dschinkim diesmal von einer lautstarken Zurechtweisung abhielt.
»Seid willkommen in der Halle der Morgenröte, Beatrice, Frau aus dem Norden des Abendlandes«, sagte Li Mu Bai und kam ihnen entgegen. »Seid ebenfalls gegrüßt, Dschinkim, Bruder und Thronfolger unseres ehrwürdigen Kaisers Khubilai Khan. Eure Anwesenheit in der Halle der Morgenröte ist eine freudige Überraschung. Sie verleiht diesem Tag einen unvorhergesehenen Glanz.«
Der kleine kahl geschorene Mönch verneigte sich tief. In seinem orangefarbenen Gewand wirkte er inmitten der grauen, bärtigen Gestalten wie ein fröhlicher Farbtupfer. Tatsächlich schien er der Einzige zu sein, der überhaupt bereit war, sie zu begrüßen. Die anderen starrten sie immer noch schweigend und mit unbeweglichen Gesichtern an.
»Zu Ehren Eurer Anwesenheit haben sich heute alle Ärzte hier versammelt, um mit Euch gemeinsam die Kranken zu untersuchen und den von unserem hoch geschätzten Kaiser erwünschten Austausch des Wissens zu beginnen«, fuhr Li Mu Bai fort. Doch Beatrice hatte den Verdacht, dass er lediglich in höfliche Worte kleidete, was man auch Neugierde hätte nennen können. »Ich möchte Euch zuerst die weisen und edlen Herren vorstellen.«
Li Mu Bai führte Beatrice und Dschinkim an der Reihe der Ärzte vorbei und nannte dabei ihre Namen. Die Männer verbeugten sich so kurz, dass es eher wie ein Nicken aussah – die äußerste Grenze dessen, was die Höflichkeit gebot.
Ich werde sie ohnehin nicht auseinanderhalten können, dachte Beatrice. Für mich sehen sie alle gleich aus. Und die Namen… Ich werde Jahre brauchen, um die zu lernen.
In ihrem Kopf wirbelten die chinesischen Silben durcheinander. Nur ein Name war ihr im Gedächtnis geblieben, und vermutlich war er auch der wichtigste: Lo Han Chen. Er war ein alter, mindestens siebzigjähriger Mann, dessen schlohweißer Bart bis auf die Brust reichte und so dünn war, dass die wenigen vom Kinn herabhängenden Haare fast wie Spinnweben aussahen. Er schien so etwas wie das Oberhaupt der Ärzte zu sein. Ob die anderen Männer seine Söhne oder Neffen oder einfach nur »Kollegen« waren, vermochte sie nicht auszumachen.
»Nun wollen wir zu dem ersten Kranken gehen«, sagte Li Mu Bai.
Auch seine Freundlichkeit konnte man nur als zurückhaltend bezeichnen. Seine Worte hätte man ebenso gut als geschickt verpackte Beleidigungen auffassen können. Trotzdem hatte Beatrice den Eindruck, dass ihm das Verhalten seiner Kollegen überhaupt nicht gefiel. Er führte Beatrice an das Bettgestell am Anfang der Reihe. Dort lag ein alter, bis auf die Knochen abgemagerter Mann. Er war völlig apathisch und gab außer einem raschen Heben und Senken der Brust sowie einem gelegentlichen Blinzeln kein Lebenszeichen von sich.
»Was sagst du?«
Beatrice fühlte, wie sich ein Dutzend Augenpaare auf sie richteten – neugierig, skeptisch und unfreundlich. Sie starrten sie an in der Erwartung, dass sich diese Barbarin, die es wagte, die heilige Halle der Morgenröte zu betreten, bis auf die Knochen blamieren
Weitere Kostenlose Bücher