Das Rätsel der Fatima
keine Chance gegeben. Sie wollten, dass du dich falsch verhältst und Fehler machst. Wenn diese Männer Angehörige meines Volkes wären, würde ich mich für sie schämen und sie auf der Stelle von der Stadtmauer hinunterwerfen lassen!«
Beatrice lächelte gequält. Dschinkims Hass gegen die Chinesen saß offensichtlich so tief, dass er sich sogar dazu herabließ, eine wildfremde, höchst verdächtige Europäerin zu verteidigen. Aber sie wusste es besser. Sie hatte alle Erwartungen erfüllt und sich genauso verhalten, wie Lo Han Chen und seine Zöglinge es sich gewünscht hatten – ungeschickt, unwissend und durch und durch unprofessionell.
»Den Versuch, mich zu trösten, weiß ich zu schätzen«, sagte Beatrice und schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber ich habe mich benommen, als ob ich von Medizin und dem Umgang mit Patienten keine Ahnung hätte.«
»Du kennst die Chinesen noch nicht so gut wie ich. Hochmut und Arroganz sind unter ihnen weit verbreitet. In ihrer Seele ist nichts tiefer verwurzelt als die Überzeugung, dass ihre eigene Kultur die unbestreitbar höchste ist. Und du ahnst nicht, wozu sie allein aus diesem Grund fähig sind.« Dschinkims Augen funkelten so zornig, als würde er in diesem Moment ohne Gewissensbisse den erstbesten Chinesen, der ihm in die Hände fiel, erwürgen. »Es war von Anfang an ihre Absicht, dich zu demütigen. Sie haben alles ganz genau geplant. Allerdings hätte Li Mu Bai ihre Pläne beinahe durchkreuzt. Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber dass er hinausgerufen wurde, war kein Zufall. Lo Han Chen hat das arrangiert. Ich habe gesehen, wie er kurz zuvor mit diesem nichtsnutzigen Diener sprach.« Er spuckte aus. »Am liebsten würde ich den Bart dieses Alten am Sattel meines Pferds festbinden und ihn zur Abschreckung quer durch Taitu schleifen.«
Beatrice winkte müde ab. »Was soll das. Diese drei dünnen Haare würden doch reißen, noch bevor du in den Sattel gestiegen wärst.«
Sie sahen sich an, und plötzlich mussten sie beide lachen.
»Du hast recht. Was Lo Han Chen aus dem Gesicht sprießt, reicht nicht einmal aus, um ihn von einem alten Weib zu unterscheiden. Ich werde mir etwas anderes für ihn ausdenken. Aber was ist mit dir? Was wirst du jetzt tun?«
Beatrice zuckte mit den Schultern. »Was schon? Ich werde mich gleich hinlegen und versuchen, so schnell wie möglich den heutigen Tag zu vergessen. Und dann werde ich mir vornehmen, morgen alles besser zu machen.«
Doch Dschinkim schüttelte heftig den Kopf. »Nein, tu das nicht. Du solltest diese Schmach nicht noch einmal über dich ergehen lassen. Das ist nicht gut für dich und dein…« Er brach ab und senkte verlegen den Blick. »Ich werde sogleich mit meinem Bruder sprechen und ihn bitten, dich von dieser Pflicht zu befreien.«
Beatrice überlegte. Für einen kurzen Moment kam sie in die Versuchung, Dschinkims Vorschlag anzunehmen. Diesen arroganten, unsympathischen Ärzten nie wieder unter die Augen zu treten, war wirklich überaus verlockend, aber… Wie sollte sie sich selbst jemals wieder im Spiegel begegnen, wenn sie jetzt wegen so einer Kleinigkeit den Kopf in den Sand steckte?
»Nein«, sagte sie bestimmt. »Bitte tu das nicht.«
Dschinkim sah sie überrascht an. »Aber warum? Ich bin sicher, dass du nichts zu befürchten hast. Khubilai wird es verstehen. Er mag zwar in manchen Dingen ein Narr sein, und oft sind wir unterschiedlicher Meinung, aber er hat ein großzügiges Herz.«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht. Es hat eher etwas mit… nun ja, mit Stolz zu tun. Mein Selbstbewusstsein hat einen Dämpfer bekommen, und das kann ich nicht einfach so hinnehmen. Es ist eben nicht meine Art, mich von Unhöflichkeit und schlechtem Benehmen einschüchtern zu lassen. Außerdem habe ich tatsächlich Fehler begangen, die ich wiedergutmachen will. Und letztendlich…« Sie hob den Kopf. »Mir tun die Kranken leid. Ich bin Ärztin. Ich habe einen Schwur geleistet, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um Leiden zu lindern oder zu heilen. Davon kann ich mich nicht lösen. Ich weiß, was ich kann. Ich bin eine gute Chirurgin und weiß viele Dinge, von denen diese alten Tattergreise noch nie gehört haben. Gemeinsam könnten wir den armen Geschöpfen, die dort auf ihren Bettgestellen dahinvegetieren, sicherlich viel besser helfen.« Beatrice machte eine kurze Pause. Dann lächelte sie grimmig. »Außerdem will ich diesen arroganten Holzköpfen beweisen, dass nicht sie allein die
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