Das Raetsel der Liebe
Herz machte einen Sprung, als sie den Umschlag nicht im Inneren rascheln hörte. Sie wollte den Deckel öffnen, doch das Kästchen war verschlossen.
Ohne weiter nachzudenken, hob sie es über den Kopf und schlug es mit voller Wucht auf das Fensterbrett.
Draußen im Foyer stieß Mrs Driscoll einen spitzen Schrei aus.
Lydia versuchte mit aller Kraft, das Schloss zu öffnen, doch es rührte sich nicht. Sie hielt das Kästchen schräg und ließ es wieder und wieder auf die Kante des Fensterbretts niedersausen. Tiefe Kerben erschienen in dem dunklen Holz.
Endlich! Das Schloss brach und Lydia klappte den Deckel zurück. Obgleich sie schon vorher gewusst hatte, dass der Umschlag nicht mehr da sein würde, stöhnte sie beim Anblick des leeren, mit Samt ausgeschlagenen Inneren schmerzvoll auf. Das Kästchen fiel zu Boden, der Deckel klappte zu.
»Lydia!«
Schwer und scharf wie eine geschliffene Axt fuhr die Stimme ihrer Großmutter auf sie nieder. Lydia begann am ganzen Leib zu zittern. Dennoch zwang sie sich, den Kopf zu heben. Mrs Boyd ließ den Blick durch den Raum schweifen, über das am Boden liegende Kästchen, das zerbrochene Schloss. Lydia konnte sehen, dass sie allmählich den Grund für die tiefe Verzweiflung ihrer Enkelin zu begreifen begann.
Dann … Stille. Das Zimmer eine staubtrockene Felsenhöhle in der Wüste, die nach Wasser dürstete.
»Sie … er hat ihr das Medaillon gegeben … Es ist Jahre her, dass ich den Schlüssel darin versteckt habe …«
Die Worte flackerten in Lydias Kehle auf und erstarben wie ein ausgehendes Feuer. Sie schlug die Hände vors Gesicht.
»Hat sie … hat sie irgendetwas zu dir gesagt?«, fragte sie nach langem Schweigen.
»Nein.« Mrs Boyd warf einen Blick auf die Haushälterin, die sich furchtsam und unsicher im Hintergrund herumdrückte. »Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen, Mrs Driscoll!«
»Ja, Madam.« Sie hastete aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Lydia starrte auf den Teppich, wo der schwarze Schatten ihrer Großmutter drohend auf das Kästchen fiel. »Wo ist sie?«
»Oben.« Mrs Boyd klappte mit der Spitze ihres Gehstocks den kupfernen Deckel hoch. »Wo sind die Papiere?«
»Sie … Jane muss sie haben.«
»Wenn sie es noch niemanden erzählt hat, können wir vielleicht immer noch größeren Schaden verhindern.« Mrs Boyd nickte Richtung Tür. »Lydia, geh sofort nach oben und sprich mit ihr!«
»Falls Alexander hierherkommt, lass ihn nicht zu uns.«
Lydia hob das beschädigte Kästchen auf und stieg mit einem flauen Gefühl von Bedrohung im Magen die Treppe hoch. Die Tür zum Unterrichtszimmer stand halb offen. Sie klopfte trotzdem, bevor sie sie ganz aufstieß und entschlossen eintrat. Jane stand am Fenster, eine Hand flach an die Scheibe gelegt.
»Jane.«
Das Mädchen wandte sich um. Sein Blick fiel auf das Kästchen. Den leeren Behälter so fest umklammert, dass sich die Kanten schmerzhaft in ihr Fleisch schnitten, ging Lydia langsam auf sie zu.
»Wie … wie war der Tee bei Lady Montague?«, fragte sie mit bebender Stimme.
»So, wie er sein soll, natürlich.« Jane hob das Kinn und blickte wieder aus dem Fenster. Ihre schmalen Schultern spannten sich an. »Köstlich. Es gab Baisers und Makronen. Und einen Kuchen, der kommt aus Reims. Sie nannte ihn
pain d’epices
. Er wird mit Orangenwasser und Anis gemacht.«
»Das hört sich wirklich nett an.«
»An Lady Montague ist alles nett.«
»Stimmt.« Lydia ging vorsichtig auf das Mädchen zu, blieb aber in der Mitte des Zimmers stehen. »Jane.«
Das Mädchen wirbelte so schnell herum, dass ihr Haar wie ein Fächer über die Schulter nach hinten schwang. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst, der Blick ihrer grünen Augen steinhart. »Ich hasse dich, Lydia! Ich
hasse
dich!«
»Nein! Nicht!« Entsetzen schoss durch Lydias Brust. Das Kästchen fiel ihr aus der zitternden Hand und landete polternd auf dem Tisch. »Bitte, so lass mich doch erklären …«
»Du hast mich angelogen! Die ganze Zeit hast du mich angelogen!«
»Ich weiß, aber –«
»Warum?« Jane wischte einen Stapel Papier vom Tisch und fischte das Blatt heraus, das so viele Jahre in seinem Versteck gelegen hatte.»Du hast es mir verschwiegen! Und dabei hätte ich jedes Recht der Welt gehabt, die Wahrheit zu erfahren!«
»Niemand kannte die Wahrheit, Jane. Niemand außer Papa und Großmama.« Lydia schossen die Tränen in die Augen, und sie wollte Jane in die Arme nehmen. Doch das Mädchen entzog sich und ging
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