Das Raetsel der Liebe
Richtung Tür.
»Und wieso ich nicht?«, schnappte sie.
»Man hätte dich uns weggenommen.« Lydia wischte sich die Tränen vom Gesicht. Sie konnte diesen feindseligen Ausdruck in Janes Augen kaum ertragen. Und gleichzeitig konnte sie weder ihrem Vater noch ihrer Großmutter die Schuld an all dem geben. Die beiden hatten nur getan, was sie für das Beste gehalten hatten. Sie hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, damit Jane bei ihnen hatte bleiben können. »Wir konnten es dir nicht sagen, wir wollten nicht, dass du …«
»Natürlich hättest du gekonnt!«, fiel Jane ihr ins Wort. »Du wolltest es nur nicht. Weil du wusstest, dass ich dein Leben ruinieren würde! Dass Lord Northwood dich niemals heiraten würde, wenn er es wüsste! Aber wenn du es vor mir geheim halten würdest, bekämst du alles, was du dir immer gewünscht hast, und mir bliebe gar nichts.«
Lydias Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. »Oh, Jane. Das wird niemals so sein, und das weißt du auch. Es stimmt nicht, dass ich Northwood nichts davon gesagt habe, weil ich will, dass er mich heiratet. Ich habe es ihm nicht gesagt, weil
niemals
irgendjemand
etwas davon wissen darf.«
»Aber warum? Warum musste es so ein großes Geheimnis bleiben?«
»Weil … es war zu gefährlich.« Lydia blickte Jane direkt in die Augen. Fetzen von Erinnerungen blitzten in ihr auf. Ein scharf geschnittenes Gesicht mit Augen so kalt wie Glas. Ein schlanker, blonder Mann auf der anderen Straßenseite. Das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden.
Da war sie wieder, die alte Angst, und legte ihre scharfen Klauen um Lydias Kehle. »Jane, wenn –«
»Gefährlich für dich, meinst du wohl!«, fiel Jane ihr wieder ins Wort. »Ich weiß ganz genau, warum du es niemandem gesagt hast, Lydia. Und es hat überhaupt nichts mit
mir
zu tun. Dein Leben würde es zerstören, wenn jemand die Wahrheit erfährt!«
Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt, stürmte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Lydia entfuhr ein erstickter Schrei. Dann wurde sie von einem heftigen Schluchzen geschüttelt. Sie sank auf einen Stuhl und schlug die Hände vor das tränenüberströmte Gesicht.
In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie wählen musste. Alexander oder Jane. Aber eigentlich hatte sie überhaupt keine Wahl.
Lieber C.,
wenn Lydia eine Ihrer Studentinnen war, wieso haben Sie dann angefangen, mir zu schreiben und nicht ihr?
Ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich habe ein Dokument gefunden, das unzählige Fragen für mich aufwirft. Und auf keine davon gibt es bis jetzt eine Antwort.
Lydia habe ich noch nicht gefragt. Ich würde gerne zuerst mit Ihnen sprechen. Also schlage ich ein Treffen vor, so bald wie möglich. Am Dienstag werde ich in St. Martin’s Hall sein.
Ich habe nicht die Absicht, Lydia irgendwas zu fragen. Wenn jemand die Wahrheit verschwiegen hat, dann muss man sie ihm auch nicht sagen. Ist es nicht so?
Hochachtungsvoll,
Jane
25
Sinus zweimal Theta ist gleich zweimal Sinus Theta …
Der Gedanke löste sich auf wie Salz in kochendem Wasser.
Lydia stützte sich auf die Hand des Kutschers, als sie auf der belebten Straße aus dem Wagen stieg. Auf dem Weg zum Hörsaal versuchte sie, sich wieder auf die trigonometrische Identität zu fokussieren, doch es gelang ihr nur zum Teil. Ihre Gedanken waren zu verknotet, um über Sinus oder Cosinus oder Polynome oder Quadratwurzeln nachzudenken.
»Ich haben deinen Brief erhalten.«
Die tiefe, männliche Stimme ließ Lydia herumfahren. Ein Stück entfernt stand Alexander. Sein Ausdruck war ernst, und in seinem Blick simmerte mühsam unterdrückter Zorn.
Lydia schluckte hart und drückte ihre Tasche fester an sich. Natürlich war es feige gewesen, ihm einen Brief zu schreiben. Aber es ihm von Angesicht zu Angesicht zu sagen …
»Es tut mir leid«, sagte sie knapp.
»Die Heiratsanzeige ist letzte Woche erschienen«, schnappte er. »Noch eine geplatzte Verlobung überstehe ich nicht.«
»Du willst mich doch gar nicht heiraten, Alexander«, erwiderte sie kaum hörbar. »Glaub mir, ein geplatztes Verlöbnis ist weit besser für dich als eine Heirat mit mir.«
Er trat zu ihr und packte sie beim Arm. Seine dunklen Augen sprühten Funken, als er sich zu ihr herunterbeugte. »Warum?«, zischte er. »Warum hast du dich drei Tage lang geweigert, mich zu empfangen? Was zum Teufel geht hier vor? Wenn du nicht sofort …«
»Alles in Ordnung, Miss?« Zwei junge Männer blieben stehen und blickten
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