Das Raetsel der Liebe
bewusst gewesen, dass ich mich in einem selbst gebauten Gefängnis befand«, fuhr sie fort. »Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, was mit mir und Jane passieren würde, wenn sie älter wurde. Wenn sie ihr Zuhause verließ, heiratete, begann, ihr eigenes Leben zu leben. Natürlich hätte ich weiterhin meine Arbeit. Doch dann wurde mir klar, dass das … dass mir das nicht
genügen
würde.«
In Alexander, der sie immer noch unverwandt anblickte, zersprang etwas. Es fühlte sich gleichzeitig nach Zerstörung und Wachstum an, wie ein Keimling, der durch die harte, spröde Hülle des Samenkorns bricht.
»Was willst du, Lydia?«, fragte er und dachte an diese Nacht vor so vielen Wochen, als er ihr in dem verzweifelten Wunsch, sie zu verstehen, genau diese Frage schon einmal gestellt hatte.
Sie sahen sich lange und tief in die Augen, als wanderten auch Lydias Gedanken zurück in jene Nacht, zu jenem Kuss, zu jenem Augenblick, der alles für immer verändert hatte.
»Ich will, dass meine Familie glücklich ist«, sagte sie schließlich. »Ich will, dass die Menschen weiterhin die Arbeit meines Vaters bewundern. Ich will, dass meine Großmutter das Gefühl bekommt, alles, was sie getan hat, hätte am Ende doch zu etwas Gutem geführt. Ich will, dass Jane das Leben leben kann, das sie sich vorstellt, dass …«
»Nein. Das meine ich nicht. Was willst du für
dich
?«
Sie gab keine Antwort. Sichtlich nervös stellte er seine Tasse ab und ging zu ihr.
»
Ich
weiß genau, was ich will«, sagte er. »Ich will dich immer noch, Lydia.«
Sie starrte unverwandt aus dem Fenster. »Bitte, nicht.«
»Ich will dich zur Frau. Es kümmert mich einen Dreck, was die Leute sagen, wie es mit der Society weitergeht, was …«
»Ach, wirklich?« Sie fuhr herum. Ihre Augen funkelten vor innerem Aufruhr. »Und was ist mit deinem Vater? Glaubst du nicht, die Heirat mit mir wird ihn noch tiefer in die Einsamkeit stoßen? Und Lady Talia? Musste sie nicht ohnehin schon eine sehr schwere Zeit durchmachen? Was wird geschehen, wenn es sich herumspricht, dass ihr Bruder eine Frau mit einem unehelichen Kind geheiratet hat?«
»Um Himmels willen! Wir müssen es doch nicht aller Welt verkünden.«
»Aha. Also heiraten wir und halten es geheim? Was ist mit Jane? Wird sie dann weiterhin mit uns als meine Schwester leben? Und was geschieht, wenn es uns nicht gelingen sollte, die Wahrheit geheim zu halten?«
»Es gibt niemanden außer uns, der die Wahrheit wissen muss.«
»Dieses Risiko würdest du eingehen? Ein solches Geheimnis zu bewahren, dessen Enthüllung deinen Ruin bedeuten und deine Familie zerstören könnte?« Sie trat ganz dicht an ihn heran, und ihre blauen Augen nahmen einen harten Ausdruck an.
»Hatte deine Mutter nicht auch ein Geheimnis, Alexander?«
Unvermittelt kochte Wut in ihm hoch. »Meine Mutter hat hiermit nichts zu tun.«
»Aber ihr Geheimnis war es doch, das den Ruf deiner Familie beschmutzt hat. Willst du denn wirklich so leben?«
Alexander wurde von einer Woge alter, verkrusteter Gefühle übermannt, welche schließlich in einer Hilflosigkeit gipfelten, die sein Herz umklammert hielt wie ein Schraubstock. Sein Brustkorb begann zu schmerzen.
»Ich
werde
das in Ordnung bringen, Lydia.« Seine Augen blickten sie eindringlich an. Er wollte unbedingt, dass sie ihm glaubte.
Sie redete weiter, als hätte er nichts gesagt.
»Und glaubst du im Ernst, ich würde deine Familie, würde
dich
in eine solche Lage bringen? Dich einem solchen Risiko aussetzen?« Sie legte eine kühle Hand an seine Wange. Ihre blauen Augen, in denen sich zahllose Emotionen mischten, die er nicht deuten konnte, erforschten sein Gesicht. »Das ist der Grund, weshalb ich deinen Antrag abgelehnt habe, Alexander. Und ich bin unendlich dankbar, dass wir nun endlich ehrlich miteinander sein können. Doch das ändert nicht das Geringste an meiner Entscheidung. Ich kann dich nicht heiraten.«
Ihre Finger glitten von seiner Wange. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und verwandelten sie in die unergründlichen Tiefen des Meeres.
»Was ich will?«, fragte sie. »Ich wünsche mir ein ruhiges Leben. Ich wünsche mir …« Sie wandte den Blick ab.
»Was?«, beharrte Alexander.
»Ich wünsche mir das Leben zurück, das ich hatte, bevor ich dich traf.« Ihre Stimme war so leise, dass er angestrengt hinhören musste, um überhaupt verstehen zu können, was sie sagte.
Seine Hände krampften sich so fest zusammen, dass die Fingerknöchel weiß
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