Das Raetsel der Liebe
hinzuweisen, neben ihr an der Tafel zu stehen, sie bei der Arbeit an ihrem Schreibtisch zu beobachten, ihr gegenüber am Esstisch zu sitzen – hatten schließlich zu jenem einen Nachmittag geführt, an dem er die Zeit für reif gehalten und seinen Zug gemacht hatte.
Und sie hatte reagiert. Wie eine rollige Katze.
Selbst jetzt noch stieg bei dieser Erinnerung Erregung in ihm auf. Er wollte jene Lydia wiederhaben. Nicht diese hier, nicht die verhärtete, ältere Lydia von heute, sondern die junge Lydia. Die Lydia, die so still und ernsthaft gewesen war, als sie in Deutschland eintraf. Die Lydia, die, entgegen all seinen Erwartungen, unter seinen Berührungen aufgeblüht war wie eine reife Knospe – bis das dumme Ding alles ruiniert hatte.
Ärger verdrängte die Erregung und machte ihm die Brust eng. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Sie schuldete ihm etwas. Sie war der Auslöser für seinen Sturz gewesen, der Grund für das unrühmliche Ende seiner brillanten Karriere. Ihretwegen hatte er den Respekt seiner Kollegen verloren. Ihretwegen war er in den Schmutz von London zurückgekehrt. Mehr als zehn Jahre stand Lydia Kellaway nun schon in seiner Schuld. Und jetzt war die Zeit der Abrechnung gekommen.
10
Ungeduldig schritt Alexander vor dem Gebäude auf und ab. Ein Pferdefuhrwerk rumpelte vorbei, es war mit kaputten Möbeln, verrosteten Metallteilen und einem Stapel schmutziger Teppiche beladen. Die Sonne hatte es schwer, sich durch den dicken Schleier schmutzig gelben Nebels zu kämpfen, der über der Stadt lag.
Er klappte seine Taschenuhr auf und gab ein ungeduldiges Murren von sich. Vier Tage hatte er seit dem Kinderfest verstreichen lassen – vier Tage, an denen er bis weit nach Mitternacht aufgeblieben war und versucht hatte, Lydias verflixtes mathematisches Rätsel zu lösen. Dann war ihm ein neuer Vorwand eingefallen, um sich vor Ablauf der Frist mit ihr zu treffen. Er war zu ihrem Stadthaus gefahren. Dort hatte ihm Mrs Boyd gesagt, Lydia sei auf einem Treffen der Redaktionsleitung irgendeines Mathematik-Journals. Aber das musste doch schließlich auch einmal zu Ende sein.
Alexander wollte eben seine Runde wieder aufnehmen, da öffnete sich die Tür und Lydia trat auf die Straße, gefolgt von etwa einem halben Dutzend Herren.
»Immerhin ist er Inhaber der Hollis-Professur für Mathematik und Naturphilosophie in Harvard«, sagte einer von ihnen.
»Das heißt noch lange nicht, dass er die Methode korrekt angewandt hat, Dr. Grant«, erwiderte Lydia, während sie ihren Hut zurechtrückte. »Ich werde das Berichtigungsschreiben noch in dieser Woche entwerfen und es bei unserem nächsten Treffen vorlegen.«
»Das wird ihm aber gar nicht gefallen«, knurrte Grant.
»Besser, wir bitten ihn um eine Überarbeitung, als einen fehlerhaften Artikel zu veröffentlichen«, warf ein beleibter Herr ein. »Miss Kellaway hat vollkommen recht, was die Anwendungsmethode betrifft. Ich schlage vor, wir beauftragen sie mit der Abwicklung der Angelegenheit.«
»Einverstanden«, meinte ein dritter. »Auf unserer Agenda für das nächste Treffen steht auch Ihr eigener Beitrag, Miss Kellaway. Dürfte ich Sie bitten, ihn uns im Vorfeld zukommen zu lassen, damit wir alle Zeit haben, ihn gründlich zu lesen, bevor wir darüber sprechen. Wenn ich mich recht entsinne, handelt es sich um eine Abhandlung über die Eulerschen Gleichungen?«
Lydia nickte, und die kleine Gruppe vertiefte sich umgehend in eine Diskussion über Euler – einen Schweizer Mathematiker, der unter anderem über Analysis und Graphentheorie arbeitete. Alexander wartete einen Moment, bevor er sich räusperte. Vernehmlich.
Alle blickten hoch. Lydia blinzelte überrascht.
»Lord Northwood?«
»Mrs Boyd sagte mir, wo ich Sie finden kann, Miss Kellaway«, erklärte er. »Sie meinte, Ihr Treffen müsste ungefähr um diese Zeit zu Ende sein.«
»Nun, wir sind gerade eben fertig.« Lydia deutete auf die Herren, die sich mittlerweile im Halbkreis hinter ihr versammelt hatten und eine Art Festungsmauer bildeten. »Das hier sind meine Kollegen aus der Redaktionsleitung.«
Sie trat beiseite, um ihm ihre Begleiter vorzustellen. Alexander begrüßte jeden einzelnen von ihnen, wobei er sich der Tatsache bewusst war, dass sie ihn alle misstrauisch beäugten.
»Was führt Sie her, Mylord?«, fragte Lydia.
»Ich bin auf dem Weg nach St. Martin’s Hall, um mich vom Fortgang der Vorbereitungen für die Ausstellung zu überzeugen. Ich dachte, Sie würden mich
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