Das Rätsel der Rückkehr - Roman
so. Wenn Sie zum Beispiel die Chirurgen hören, während Sie an Ihnen operieren. Sie haben mir den Bauch dreimal aufgeschnitten, und merkwürdigerweise, als ich sie darüber reden hörte, was sie am Vorabend gegessen hatten, und sie dabei ihre Schnitte machten, war ich beruhigt, denn ich wusste, das Reden dient der Entspannung. Ich meine also nicht, die Leute hier wären unsensibel für ihr eigenes Unglück, sie spielen ganz einfach gern, sie sind die geborenen Schauspieler. Und was macht ein Schauspieler, wenn das Lämpchen auf der Kamera angeht? Er spielt. Die Kinder, vor allem die Kinder sind dabei so natürlich. Und dann vor dieser Kulisse! Man meint, das ist alles nicht wahr. Ich höre, wie die hohen Tiere reden, ich nehme jede Pressekonferenz im Nationalpalast auf, die Empfänge in den Botschaften, und ich kann Ihnen sagen, wenn Sie erlauben, das einzige, was dieses Land aus der Misere herausholen könnte, ist das Kino. Beispielsweise wenn die Amerikaner Los Angeles aufgäben und eine Menge Blockbuster hier drehen würden, und wenn die haitianische Regierung schlau genug wäre, eine Quote, eine echte Quote, für den Anteil an haitianischen Schauspielern durchzusetzen bei jedem Dreh, dann ginge es diesem Land in weniger als zwanzig Jahren deutlich besser. Das Geld wäre außerdem ehrlich verdient, denn sie sind hervorragende Schauspieler. Und vor dieser Kulisse, die so farbenfroh ist, so lebhaft. Ich hätte nie gedacht, dass man in so einer Landschaft verhungern kann.
Hunger
Ich wachte auf
mitten in der Nacht.
Die Nerven gespannt bis zum Zerreißen.
Mein Schlafanzug völlig nass.
Als wäre ich im Krach
wie in einem Meer geschwommen.
Ich habe gesehen, wie
aus diesem winzigen Haus mit drei Zimmern,
kaum geschützt von Wänden so dünn
wie feines Papier,
in weniger als einer Stunde sechsunddreißig Personen
herauskamen.
Da war jeder Millimeter besetzt.
Und keine Sekunde Stille, denke ich mir.
Die Armen suchen
das Leben
im großen Getöse.
Die Reichen haben die Stille gekauft.
Der Lärm konzentriert sich
auf einen genau begrenzten Bezirk.
Hier sind Bäume rar.
Die Sonne unbarmherzig.
Der Hunger immer da.
Ein Raum, wimmelnd vor Menschen.
Der ständige Gedanke an den Bauch.
Voll oder leer?
Sex kommt sofort danach.
Am Ende der Schlaf.
Wenn ein Mann einen Teller
Reis mit roten Bohnen
dem Zusammensein mit einer Frau vorzieht,
bedeutet dies, es tut sich was
in der Ordnung des Geschmacks.
Diese Szene sieht man mittlerweile häufig. Auf der Flucht vor den Armen verlassen die Reichen die Stadt, um immer weiter zurückgezogen in verschwiegenen Winkeln auf dem Land zu leben. Es dauert nicht lange, bis die Nachricht sich in der übervölkerten Zone herumgesprochen hat. Dann beginnt die Belagerung. Eine kleine Hütte in einer Schlucht. Eine zweite direkt neben der rosafarbenen Villa. In weniger als zwei Jahren steht da ein Slum, der das neue Nobelviertel erstickt. Jeder Krieg hat schließlich die Eroberung eines Territoriums zum Ziel.
Auch den Raum des Sprechens kann man besetzen. Seit über einer Stunde erzählt mir die alte zahnlose Frau schon eine Geschichte, und ich verstehe nichts. Dennoch spüre ich, es ist ihre eigene und sie gilt in ihren Augen so viel wie jede andere.
Ein Tag dauert hier ein Leben.
Man wird im Morgengrauen geboren.
Man wächst am Mittag heran.
Man stirbt in der Abenddämmerung.
Morgen wird man einen neuen Körper brauchen.
Die Hupe ist allgegenwärtig. Zuweilen ersetzt sie den Hahnenschrei. Sie rüttelt den zerstreuten Fußgänger wach. Sie verkündet eine Abfahrt oder eine Ankunft. Drückt Freude aus ebenso wie Wut. Im Verkehr führt sie Selbstgespräche. Einen Dialog, wenn sie einen Freund trifft. In Port-au-Prince Hupen zu verbieten, wäre Zensur.
Ich ging in das Cybercafé und stieß auf einen alten Bekannten, den ich lange nicht gesehen hatte. Mein alter Freund Gary Victor mit seinem Mondgesicht erinnert mich an den liebenswürdigen Jasmin Joseph, der ausschließlich Hasen malte. Gary Victor zaubert aus seinem Hut jedesmal einen Roman, in dem es von Teufeln, Dieben, Zombies, Spöttern und Karnevalsbanden wimmelt, alles in fröhlichen Farben, wie auf einem naiven Bild. Dabei so beladen mit Obsessionen, dass der Roman am Ende ebenso schwarz ist wie ein pubertärer Alptraum. Ich redete eine Weile mit ihm darüber, was das Thema des großen haitianischen Romans sein könnte. Zuerst ließen wir die Obsessionen anderer Völker Revue passieren. Bei den
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