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Das Rätsel der Rückkehr - Roman

Das Rätsel der Rückkehr - Roman

Titel: Das Rätsel der Rückkehr - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Das Wunderhorn <Heidelberg>
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einer halben Stunde begreift er,
    dass wir uns nicht kennen.
    Er setzt den Hut wieder auf,
    bevor er im Halbdunkel verschwindet.
    Meine Mutter sagte mir am Nachmittag
    in einem Ton, wie wenn sie zweifelte,
    ob man ihr zuhört,
    dass die Toten unter uns herumspazieren.
    Man erkennt sie an der Art,
    wie sie auftauchen und wieder verschwinden,
    ohne dass man weiß, warum.

Verlorene Dinge und Leute
    Die Zeit des Arbeiters ist so geregelt, dass er den Puls des Tages nicht mehr spürt. Es ist verständlich, warum die Arbeiter in der Seidenindustrie bei ihrer Revolte zuerst auf die große Uhr der Kathedrale geschossen haben. Sie hatten den jahrhundertealten Feind erkannt. Jede Sekunde ist ein Tropfen Blut.
    Ich spüre keine Unterschiede.
    Auch nicht den Schlaf, der kommt
    zwischen zweimal Krach
    wie der linke Haken eines Boxers.
    Ich schlafe nicht.
    Aber ich bin k.o.
    Schon seit einer Weile wach, fühle ich mich wie gerädert. Mein Körper unterliegt einem Gewöhnungsprozess, er geschieht ohne meinen Willen. Ich habe nichts mehr unter Kontrolle. All die Dinge, die ich dort aus meinem Kopf verbannte, damit das Heimweh mich nicht lähmte, sind nun mit Händen zu greifen. Sie hatten sich in meinen Körper geflüchtet und wurden von der Kälte eingefroren. Mein Körper erwärmt sich allmählich. Und mein Gedächtnis taut auf, bis es diese kleine Lache in meinem Bett geworden ist.
    Ich kriege kaum noch Luft. Die Erinnerungen kommen in drei Dimensionen zurück, mit ihren Farben, Gerüchen und Aromen. Der Frost hat ihnen all ihre Frische erhalten, als würde ich diese Frucht oder dieses rote Fahrrad zum ersten Mal sehen. Die Sapotille hat, wenn man sie anfasst, eine samtige Schale. Hunde mit gelben Augen irren durch die Nacht. Die kleinen Mädchen kreischen beim Seilhüpfen so spitz, dass man meint, sie wären eine eigene Vogelart. Der Alte, der immer am Fenster sitzt, in dem großen alten Holzgebäude beim Paramount-Kino. Das bisschen Rauch auf dem Berg. Dinge, die heute durch andere von gleicher Dichte ersetzt werden, sodass jeder Reisende sich einen Vorrat an Bildern und Empfindungen anlegen kann, zu denen er irgendwann zurückkehren möchte.
    Ich erinnere mich auch an das Gemälde
    im Wohnzimmer des Hauses in Petit-Goâve.
    Es zeigte eine kleine unbewohnte Insel
    voller Bäume mit Früchten,
    wo junge Raubkatzen spielen.
    Dort ging ich am Nachmittag hin,
    als das Leben mit zehn mir zu schwierig erschien.
    Unerträgliche Hitze.
    Eine weiße Schüssel mit Wasser
    im Halbdunkel des Zimmers.
    Drei Mangos daneben.
    Halbnackt esse ich sie gierig.
    Wasche mir danach das Gesicht.
    Ich hatte den Geschmack der Mangos am Mittag vergessen.
    Ich gehe hinaus auf die Veranda. Eine große Kokospalme
    steht genau in der Mitte
    der Baustelle für ein Haus,
    sie tanzt im wütenden Wind.
    Ich beobachte die Szene vom Balkon des Hotels.
    Als Kriegsberichterstatter
    bekam man mehr zu sehen.
    Diese Stadt erwacht
    so früh, dass sie um
    zwei Uhr nachmittags
    schon auf den Knien liegt.
    Im Schatten großer Strohhüte
    halten die Melonenverkäuferinnen
    Mittagsschlaf.
    Den Rücken an die Hotelmauer gelehnt.
    Den herzzereißend schrillen Stimmen
    der kleinen Verkäuferinnen von billigem Schmuck,
    die verzweifelt ihren Schund anbieten,
    und dem aggressiven Hupen der Autofahrer,
    auf dem Weg vom Büro ins Restaurant
    gelingt es nicht, das Wiegenlied zu übertönen,
    das eine Mutter leise ihrem kleinen Mädchen singt,
    das zwischen zwei Gemüsesäcken schläft.
    Man ruft mich sehr dringend ans Telefon. Ich ziehe mir schnell eine Hose an und gehe hinunter zur Rezeption. Ein Typ behauptet, ein Freund aus meiner Kindheit zu sein. Er wollte nur Geld für die Krankenhauskosten seiner Tochter. Ich zögere noch mit der Antwort, da sagt er mir, er stehe gleich hinter der Schranke und rufe von einem Handy an. Ich will gerade zu ihm gehen, als mich die Dame an der Rezeption davon abhält. „Diesen Vogel kenne ich, er hat das bei unseren Kunden schön öfters versucht“, sagt sie und lacht.
    Ich bin schon so lange fort, dass ich mich nicht an all die Gesichter erinnere, die rasend schnell an mir vorüberziehen und erkannt werden wollen. „Du kennst mich nicht?“ Schande. „Dein Vetter hat uns einander vorgestellt, am Vorabend deiner Abreise.“ Wir hatten uns also ein einziges Mal gesehen, und zwar vor dreiunddreißig Jahren. Ich bin allein unter acht Millionen Menschen, die sich auf einer halben Insel zusammendrängen, mit verwandschaftlichen wie auch

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