Das Rätsel der Rückkehr - Roman
Nordamerikanern fanden wir, ist es der Raum (der Wilde Westen, die Eroberung des Mondes, Route 66). Bei den Südamerikanern die Zeit (Hundert Jahre Einsamkeit). Bei den Europäern der Krieg (zwei Weltkriege in einem Jahrhundert sind prägend). Bei uns der Hunger. Das Problem sei, sagte mir Victor, dass er so schwierig zu beschreiben ist, wenn man ihn nicht selbst gekannt hat. Und die ihn aus eigener Erfahrung kennen, sind nicht unbedingt Schriftsteller. Wir sprechen nicht von Hunger, wenn jemand eine Zeitlang nichts gegessen hat. Vielmehr geht es um jemand, der sich noch nie satt gegessen hat, oder gerade so viel zu Essen hatte, um zu überleben und an nichts anderes zu denken.
Genauso erstaunlich ist, dass der Hunger nicht thematisiert wird, der die Künstler bei ihrer ständigen Suche nach einem Thema doch interessieren müsste. Der Hunger ist Gegenstand in nur sehr wenigen Romanen, Opern, Theater- und Tanzstücken. Und das, obwohl auf der Welt heute eine Milliarde Menschen hungern. Ist das Thema zu hart? Man beutet gern Kriege, Epidemien und alle denkbaren Todesarten aus. Ist das Thema zu krass? Sex verbreitet sich über die Bildschirme des Planeten. Warum also? Weil der Hunger nur Leute ohne Kaufkraft betrifft. Wer hungert liest nicht, geht nicht ins Museum und nicht zum Tanz. Er wartet darauf zu verhungern.
Nahrung ist die schrecklichste Droge. Man braucht sie immer wieder: die einen mindestens dreimal am Tag, andere ab und zu. Gary Victor erzählte mir, dass er die große Hungersnot nicht erlebt hat. Ich auch nicht. So kamen wir zu der Einsicht, dass keiner von uns je der Autor des großen haitianischen Romans sein wird, dessen Thema nur der Hunger sein kann. Roumain hat ihn gestreift, als er in
Herr über den Tau
die Dürre zum Thema machte. Dürre ist Durst. Der Durst der Erde. Ich spreche vom Menschen, der Hunger hat. Natürlich ernährt ihn die Erde. Ich habe diesen Menschen zu trösten versucht, indem ich über ähnlich interessante Themen schrieb wie zum Beispiel das Exil. Aber andere Themen haben für einen Menschen, der hungert, zu wenig Gewicht. Victor verließ mich mit Trauer in den Augen.
Aber es ist nicht nur ein Thema für einen Roman.
Man kann unberührt bleiben,
gegenüber dem eigenen Hunger, aber was ist,
wenn ein hungerndes Kind
dir die Hand hinstreckt, wie es mir
heute Morgen auf dem Markt erging?
Man gibt ihm ein paar Münzen,
obwohl man weiß, dass das Problem
sich in weniger als drei Stunden wieder stellen wird.
Ein Mann sitzt im Schatten,
der sich die Hotelmauer entlang zieht.
Auf sein Taschentuch legt er:
eine große violette Avocado daneben ein langes Brot.
Holt bedächtig sein Taschenmesser heraus,
seine erste Mahlzeit des Tages.
Ein derartiger Genuss ist unbekannt
jedem, für den Essen
nicht das letzte Ziel des Daseins ist.
Die lebhafte fröhliche alte Dame
führt das Hotel Ifé mit achtundneunzig
und kämpft jeden Tag dafür,
den Kopf über Wasser zu halten,
mit diesem Lächeln, das sie nie verlässt.
Sie ist die Mutter meines Freunds, des Dichters.
In diesem Land muss die Mutter des Dichters
arbeiten bis zu ihrem letzten Tag,
damit die Rosen weiter blühen
in den Versen ihres Sohnes.
Der würde eher ins Gefängnis
als zur Arbeit gehen.
Wir sitzen eng gedrängt in einem kleinen Restaurant in meinem alten Viertel. Das Angebot ist einfach: Reis, Avocado, Hühnchen. Ich mag diese Restaurants mit nur einem Gericht. Man kommt, setzt sich hin und wartet, bis einem das Essen gebracht wird. Ich habe eine ganze Weile mit gesenktem Kopf gegessen, nachdem ich den Bettler bemerkte, der mich hinter der Scheibe mit großen feuchten Augen ansah, die so sehr den Augen meiner Mutter glichen.
Die Version des Neffen
Heute abend spricht mein Neffe.
Den Rücken an die Mauer gelehnt.
Ruhig und bestimmt.
Wir hören, was er zu sagen hat.
Er erzählt uns vom heutigen Leben.
Wie sieht er die Dinge?
Was fühlt er dabei?
Wir wollen es wissen.
Er merkt es und übertreibt.
Ich war einmal an seiner Stelle.
An der Tür steht meine Mutter,
sie lächelt.
Sie hat drei Generationen von Männern angehört,
meinen Vater mitgezählt, die ihr jeder
eine neue Version von der gleichen Sachlage boten.
Meine Großmutter Da. Meine Mutter Marie. Meine Schwester Ketty. Diese Frauen scheren sich nicht um die große Geschichte, sie kümmern sich um den Alltag, der ein langes Band ohne Ende ist. Da bietet sich nicht die kleinste Gelegenheit, zurückzublicken, wenn jeder Tag drei
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