Das Rätsel der Templer - Roman
begannen die Brüder zu singen, dabei wiederholten sich
die immer wiederkehrenden lateinischen Texte nach einem speziell abgestimmten Rhythmus. Andächtig lauschte Gero der sonoren
Stimme seines Nachbarn, die ihn in einen Zustand fast mystischer Ruhe wiegte und ihn allen Gram für einen Moment vergessen
ließ.
Beim Verlassen der Kapelle ließ Gero den anderen Kameraden den Vortritt.
Er verweilte einen Augenblick vor einem kleineren Altar, der unmittelbar neben dem Eingangsbereich in das Mauerwerk eingelassen
war. Mit gebeugtem Haupt bekreuzigte er sich vor einem unscheinbaren Holzkreuz, bei dem man auf eine leidende Jesusfigur verzichtet
hatte. Ein Vaterunser musste vorab zur Reue gereichen. Sein Ausrutscher in den Mannschaftsräumen verlangte nach Ablass, und
den konnte Gero nur erwarten, wenn er mindesten einhundertzwanzig Vaterunser betete. Doch dafür hatte er keine Zeit. Obwohl
ihm der Appetit durch das Gespräch mit d’Our vergangen war, wartete im Refektorium das abendliche Vespermahl, dem er ohne
Zustimmung seines Komturs nicht fernbleiben durfte.
Sein hitziges Naturell hatte ihm schon so manche Bußnacht auf dem kalten Steinboden in der Kapelle beschert – auf dem Bauch
liegend, ausgestreckt wie Jesus am Kreuz. Er hatte sich längst damit abgefunden, dass ihn mehr die Kampfbereitschaft eines
Kriegers durchflutete als die Sanftheit des Mönchs.
|39| Als Templer sollte er im Idealfall beides zu gleichen Teilen miteinander vereinen. Doch allein der kräftige Körperbau und
seine Größe ließen erahnen, dass ihm das nicht immer gelingen wollte. Die großen Hände und sehnigen Arme schienen für den
Schwertkampf wie geschaffen und schleuderten den kostbaren Anderthalbhänder, den er von seinem Vater anlässlich des Ritterschlages
erhalten hatte, jedem Angreifer mit einer Leichtigkeit entgegen, als ob es sich nicht um eine sechs Pfund schwere Waffe, sondern
um einen morschen Stock handelte.
Begleitet von einem knarrenden Laut, öffnete Gero die kleine Tür zum Hof, wo Johan bereits auf ihn wartete. Allmählich zog
die Dämmerung herauf, und rundherum entzündeten rührige Knechte die Fackeln und Feuerkörbe.
Von der nahe gelegenen Stadtkirche St. Pierre läuteten die Glocken zur zwölften Stunde des Tages, und aus dem Backhaus drang
der Duft von ofenwarmem Brot.
Für einen Moment hielt Gero in seinen Schritten inne und packte Johan am Oberarm, damit er stehen blieb. Ein warmes Lächeln
umspielte die Lippen des flandrischen Templers, als er sich umwandte.
»Danke«, sagte Gero leise.
»Wofür?« Johan sah ihn überrascht an.
»Dafür, dass du mich heute bereits zum zweiten Mal vor einer Dummheit bewahrt hast.«
»Keine Ursache«, erwiderte Johan, dann zeigte er auf das halb geöffnete Hoftor.
»Schau mal, wer da kommt.«
Im Lichtschein der brennenden Fackeln beobachtete Gero, wie Struan seinen mächtigen, nachtschwarzen Friesen mit schnellen
Schritten zu den Stallungen führte. Der schottische Bruder nahm zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einen lauten Pfiff
aus, der mehreren Knappen, die tatenlos herumlungerten, das Signal gab, ihm das Tier abzunehmen und abzuschirren.
Der Abendwind fuhr durch Struans weißen, knielangen Templermantel, und das rote Tatzenkreuz auf seinem Wappenrock leuchtete
sogar noch in der Dämmerung.
»Da ist Struan«, sagte Johan und nickte zu dem eindrucksvollen Hünen hin.
|40| Zu gerne hätte Gero gewusst, warum sein schwarzhaariger Freund so spät nach Hause kam und wieso er alleine unterwegs gewesen
war. Vielleicht kehrte er von einer Außenmission zurück. Struans Kleidung – Kettenhemd, lederne Reithose, darüber sein Schwertgehenk
und Messergürtel – deuteten darauf hin.
Templer ritten der Regel entsprechend mindestens zu zweit, wenn sie einen Auftrag zu erfüllen hatten. Es sei denn, es handelte
sich um ein persönliches Anliegen und der Komtur hatte die ausdrückliche Erlaubnis erteilt, dass man die Komturei zu diesem
Zweck ohne Begleitung verlassen durfte.
Aber was sollte Struan persönlich zu erledigen haben? Seine Verwandten kamen nie zu Besuch, und soweit Gero wusste, hatte
er keine Freunde, die außerhalb der Komturei wohnten. Krank war er auch nicht. Selbst wenn Gislingham so etwas behauptet hatte.
»Ich will ihn nur kurz begrüßen«, erklärte Gero mit einem entschuldigenden Blick zu Johan, »dann komme ich nach.«
Mit gesenktem Haupt begab sich Struan zu den Mannschaftsunterkünften.
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