Das Rätsel der Templer - Roman
auf und schenkte Gero ein verstohlenes Lächeln, das er mit gemischten
Gefühlen erwiderte.
»Wenn Ihr in die Zukunft reisen wollt«, fuhr Henri d’Our zur Erklärung fort, »benötigt Ihr jemanden, der Euch von dort aus
abholt. Und selbst das geschieht nur, wenn das Haupt es erlaubt. Hingegen ist es möglich, von hier aus in vergangene Zeiten
zu reisen, aber nur dorthin, wo Ihr Euch nicht schon vorher befunden habt. Es ist nicht möglich, zweimal zur selben Zeit zu
existieren. Der Mechanismus führt vor der Abreise eine Prüfung durch, die darüber bestimmt, ob Ihr für diese Reise geeignet
seid oder nicht. Allerdings dürft Ihr es Euch nicht zu einfach vorstellen. Es ist kein Spielzeug, dessen man sich nach Belieben
bedient, sondern ein gefährliches Unterfangen, das den Jüngsten Tag herauf beschwören kann, wenn es in die falschen Hände
gerät.«
»War es das, was Ihr wolltet?«, fragte Gero und wechselte ins Franzische, damit ihn auch alle anderen wieder verstanden.
»Den Jüngsten Tag herauf beschwören?« D’Our sah ihn an, als ob er den Verstand verloren hätte.
»Nein«, sagte Gero und schüttelte den Kopf. »Wolltet Ihr Philipp IV. und seine Mutter töten, um den Orden vor dem Untergang
und damit auch das Haupt vor dessen Zugriff zu schützen?«
|701| »Es war ein verzweifelter Versuch«, gab d’Our zögernd zu. »Aber es war nicht recht. Und vielleicht hat Gott der Allmächtige
sich Eurer bedient, um es nicht zuzulassen.«
»Bedeutet das, Ihr wollt Eure Einflussnahme aufgeben und von nun an den Dingen ihren Lauf lassen?«
»Im Prinzip ja«, antwortete d’Our leise. »Das heißt jedoch nicht, dass das Schicksal des Ordens mit meiner Entscheidung besiegelt
ist. Mit unserem Wissen über zukünftige Ereignisse haben wir immer noch die Möglichkeit, das Ruder herumzureißen, um wenigstens
zu retten, was noch zu retten ist. Wenn wir gleich morgen aufbrechen und uns in die deutschen Lande durchschlagen, können
wir die weiteren Geschehnisse vielleicht beeinflussen, sofern der Allmächtige uns lässt. Und ich hoffe im Namen der heiligen
Jungfrau auf die Unterstützung aller hier Anwesenden. Und damit möchte ich unsere beiden Schwestern nicht ausschließen.« Sein
Blick wanderte zu den Frauen, und ein leises Lächeln umspielte seine Lippen.
Niemand getraute sich zu widersprechen. Es konnte noch Wochen dauern, ja vielleicht sogar ein ganzes Leben, bis es den Brüdern
von Bar-sur-Aube gelingen würde, die soeben verkündeten Wahrheiten wirklich zu verstehen. Ein stummes Nicken machte die Runde,
und der Komtur stimmte mit einem erschöpften »So sei es« leise und andächtig den Vespergesang an.
44
Donnerstag, 16. November 1307 – Der Verräter
Im ersten Morgengrauen bereitete Hannah auf Bitte von Johan einen wärmenden Trunk aus Rotwein, Eigelb, Honig und Gewürzen
für die geretteten Ritterbrüder.
»Ich kann reiten«, erklärte Stefano de Sapin tapfer, als Gero fragte, wer auf der Weiterreise ein Pferd nehmen wolle und wer
es vorziehe, auf dem Wagen mitzufahren. Stefano war ein großer, sehniger Kerl, und seine ihm eigene Art von Sturheit und Mut
hatte ihm auch der Großinquisitor von Franzien nicht nehmen können. Entschlossen, wenn auch ein wenig wackelig erhob er sich
von seinem Lager.
|702| »Ich reite ebenfalls«, verkündete Arnaud de Mirepaux. Trotz seiner Schmerzen straffte er seine kantigen Schultern.
Henri d’Our hingegen legte keinen Wert darauf, ein Ross zu besteigen. Seine Finger waren gebrochen. Ein straffer Verband,
der dafür sorgte, dass wenigstens die Schwellungen zurückgingen, machte es ihm unmöglich, Zügel zu halten. Ob er jemals wieder
mit einem Schwert würde kämpfen können, blieb indes fraglich.
Gero löste die Bodenplatten im Wagen und verteilte Schwerter und Schilde, die sie dort versteckt hatten. Arnaud wog prüfend
einen glänzenden Anderthalbhänder in seinen Händen. Gleich darauf förderte Gero drei Armbrüste und drei Langbögen von der
neuen, englischen Sorte zutage. Während die Männer über die Wirkungsweise dieser grausamen Waffen diskutierten, schaffte es
Freya, sich für ein paar Momente mit Johan zurückzuziehen. Er hatte sich an der Unterredung seiner Kameraden nicht beteiligt.
»Holla.« Arnaud, der sich ganz in der Nähe erleichtert hatte, schnalzte mit der Zunge, als Johan an ihm vorbeimarschierte,
um Freya einen wärmenden Umhang zu bringen. »Darf ich mir auch so eine schöne Magd wünschen,
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