Das Rätsel der Templer - Roman
konnte er die Verzweiflung in d’Ours Blick wahrnehmen, bevor der Komtur wieder
die routinierte Miene eines hohen Offiziers aufsetzte.
»Johan hat recht«, sagte Gero. »Gislingham wird sich mit Euch nicht zufrieden geben«, bekräftigte er. »Er will mich. Wenn
er dafür die anderen in die Freiheit entlässt, haben wir vielleicht das Haupt gerettet. Ich werde den Boten mit einem entsprechenden
Angebot zurücksenden.«
Eine Weile herrschte vollkommene Stille. Gebannt schauten die Männer auf ihren Komtur, der immer noch ihr Anführer war und
dem sie nach wie vor bedingungslosen Gehorsam schuldeten.
»So sei es«, sagte d’Our, wenn auch nur halbherzig. Ein erlöster Seufzer ging durch die Reihe, obwohl ein jeder wusste, dass
ihnen allesamt ein unerhört grausames Schicksal bevorstand, das nur mit Gottes Hilfe zu überstehen war. Die eigene Unversehrtheit
jedoch für das Leben Unschuldiger zu opfern war ein ehernes Gesetz, das in den |724| Regeln der Templer fest verankert war und das zuletzt bei der Erstürmung der Ordensburg von Akko seine Wirkung gezeigt hatte,
als die dortigen Ritterbrüder es vorgezogen hatten, lieber im Kampf zu sterben als unschuldige Frauen und Kinder der Willkür
der Mamelucken zu überlassen.
Hannah war dem Zusammenbruch nahe, als Gero in Begleitung des Boten und ohne jegliche Bewaffnung auf seinem Pferd heran galoppiert
kam. Zur Sicherheit hatte man ihm die Hände gebunden, und so hielt er die Zügel nur lose zwischen den Fingern, während er
seinen Braunen mit einem Schenkeldruck stoppte.
Mit Entsetzen beobachtete Anselm, wie Guy de Gislingham das Lächeln eines wahrhaftigen Teufels aufsetzte, als Pierre ihm den
hünenhaften Templer regelrecht vorführte. Die heimliche Frage, warum sich Gero ergeben hatte, blieb unbeantwortet, und umzingelt
von Armbrustschützen war es Anselm nicht möglich, mit dem Templer in Augenkontakt zu treten.
Es war eine gespenstische Situation. All die Männer in ihren archaisch wirkenden Uniformen, bis an die Zähne gerüstet mit
ebensolchen Waffen, umgeben von aufsteigendem Nebel, dazu das unmelodische Krächzen vereinzelter Raben.
Anselm wünschte sich inbrünstig das plötzliche Geräusch eines Flugzeuges oder eines Traktors oder das vielleicht lebensrettende
Klingeln eines Mobiltelefons.
Doch gefesselt wie er war, konnte er dieses Wunder nicht selbst bewirken.
Der Soldat zwang Gero, vor Gislingham niederzuknien. Trotz dieser Geste der Demütigung straffte Gero seine Schultern und schaute
dem Engländer fest in die Augen.
»Gebt die Frauen, den Jungen und den Mann frei!« Ohne einen Funken Zweifel oder Unsicherheit stellte Gero seine Forderungen.
»Das, was du willst, Gisli, ist eine Sache zwischen uns. Die anderen hier haben nicht das Geringste damit zu tun.«
Gislingham schien unbeeindruckt. Langsam wie eine Schlange, die ihre Beute beäugt, bevor sie daran geht, sie zu verschlingen,
umrundete er mit einem widerlichen Grinsen seinen ehemaligen, deutschen Bruder.
|725|
»Sir Guy«
, sagte er schneidend. »Für einen Verräter wie dich, immer noch
Sir Guy
. Hast du mich verstanden?«
»Die Frage stellt sich, wer hier ein Verräter ist«, erklärte Gero kühl. »Ich habe dir das Leben gerettet, als du in deiner
bepissten Unterhose hinter den Mauern der Komturei gekauert hast. Vergiss das nicht.«
»Tut mir leid, Euch enttäuschen zu müssen, Bruder Gero. Ich war nie einer der Euren, auch wenn es den Anschein hatte. Meine
Aufgabe bestand von Anfang an darin, die Machenschaften des Ordens aufzudecken.«
Gero holte tief Luft und spie Guy de Gislingham, der nun dicht vor ihm stand, auf die Stiefel.
Ohne lange darüber nachzudenken, verpasste ihm der Engländer eine schallende Ohrfeige.
Unter dem Schlag des gepanzerten Kettenhandschuhs platzte Geros Wange auf. Blut rann über sein Kinn hin zu seinem breiten
Halsmuskel.
Guy de Gislingham kümmerte das nicht. Mit einem spöttischen Blick hob er von neuem an. »Erst wenn all deine Kameraden samt
eurem senilen Komtur bereit sind, sich zu ergeben, lasse ich die Frauen und den Jungen ziehen.«
Ohne eine Antwort Geros abzuwarten, wandte er sich um, und auf ein Fingerzeichen wurde Anselm herbeigeführt. »Dieser Kerl
hier«, bestimmte Gislingham in scharfem Ton, »wird Euer Schicksal teilen. Er hat einen meiner besten Männer auf dem Gewissen.
Es gibt keinen Grund, ihm den Galgen zu verwehren.«
Für einen Moment schloss Gero die Augen.
»Es war
Weitere Kostenlose Bücher