Das Rätsel Sigma
Schläfer auf die Stirn, rief: „Guten Morgen, Liebling, aufstehen!“ Ihre Stimme zitterte leicht. Dann machte sie Licht, zog ihm die Decke halb weg und ging aus der Tür, die sie offen ließ. Eine Kaffeemühle begann zu summen.
Der technische Assistent hielt den Daumen hoch – der Weckvorgang läuft, bedeutete das. Frau Kottner nebenan sang einen Schlager, der Ton war dem Weinen näher als dem Lachen, aber sie hielt sich tapfer. Dann steckte sie den Kopf zur Tür herein und rief: „Los, los, Schlafmütze, das Kaffeewasser kocht schon!“
Der Assistent hielt jetzt den Arm noch höher – der Weckvorgang steigerte sich. Aber dann hielt er die Hand flach waagerecht – es ging nicht weiter. Als Frau Kottner mit dem Kaffee hereinkam, zeigte der Daumen des Assistenten schon abwärts.
„Danke“, sagte der Arzt müde. Die Frau starrte ihn an. „Nichts?“
„Warten Sie!“ sagte der Arzt.
Der Assistent kam herein und zeigte ihm das Kurvenblatt aus dem Registriergerät. „Diesmal nicht ganz ergebnislos“, sagte er, „die Schlafspindeln sind ausgeblieben, hier!“ Er deutete auf eine Stelle des Enzephalogramms, aber der Chefarzt brummte nur ein flüchtiges Jaja und winkte ab.
„Es kommt mir wenigstens so vor“, fügte der Assistent etwas gekränkt hinzu, aber da er keine Antwort erhielt, ging er wieder hinaus, ins Nebenzimmer, an seine Geräte.
Dr. Knabus hielt den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen, so als döse er vor sich hin. Frau Kottner, ratlos, erschöpft nach der seelischen Anspannung, zögerte, ihn noch einmal anzusprechen. Aber der Chefarzt döste nicht – er rang um einen Entschluß. Sollte er der Frau sagen, daß er auch nicht weiter wußte? So etwas war nicht üblich, die Erfahrung mit Patienten und deren Angehörigen sprach erst recht dagegen; wie modern die Medizin auch sein mochte, noch immer war es für die Heilung wichtig, daß der Patient an den Arzt glaubte… Aber in diesem Fall? Die Frau hatte gut mitgearbeitet, sie hatte Kraft und Nervenstärke bewiesen…
„Setzen Sie sich!“ sagte der Chefarzt. Er selbst stand auf und ging hin und her, während er sprach. „Ich rede jetzt ganz rückhaltlos und offen zu Ihnen“, begann er. „Nicht, weil ich das für eine gute Methode halte, sondern weil ich Ihre Hilfe brauche. Über die Krankheit wissen wir nichts. Gar nichts. Wir haben drei Fälle. Gleichzeitig. Also muß es eine gemeinsame Ursache geben. Niemand kann heute sagen, wie schnell wir diese Ursache feststellen werden. Nicht einmal, wo sie zu suchen ist. Ich muß Sie bitten, mir in den nächsten Stunden alles aufzuschreiben, was Sie über Ihren Mann mitteilen können: Lebenslauf, Temperament, feste Gewohnheiten, Neigungen und Abneigungen. Bisherige Erkrankungen, selbst die geringfügigsten Fehler und Schwächen, auch die intimsten. Stärken ebenfalls. Verstehen Sie, alles, was seine Persönlichkeit ausmacht, wodurch Sie ihn von anderen unterscheiden.“
Er schwieg einen Augenblick, überlegte, ob er verständlich und eindringlich genug gesprochen hatte, und setzte dann hinzu: „Sie haben bei unserem Versuch ausgezeichnet mitgearbeitet. Es ist dabei nichts herausgekommen. Kann sein, daß bei Ihren Notizen auch nichts herauskommt. Wollen Sie trotzdem alle Sorgfalt hineinlegen?“
Die Frau sah den Arzt an und nickte.
„Gut. Haben Sie noch Fragen?“
„Sie sind müde“, sagte die Frau.
Der Chefarzt wußte, daß er bei seinen Mitarbeitern als ein Arbeitstier galt, und er war insgeheim stolz darauf. Also machte ihn die Bemerkung der Frau augenblicklich munter.
„Fragen Sie trotzdem!“ sagte er.
„Ich möchte gern genauer wissen, wozu Sie das brauchen. Dann kann ich besser nachdenken.“
„Sehen Sie“, sagte der Chefarzt, „wenn ich vorhin erklärt habe, wir wissen nichts, so stimmt das nicht ganz. Zwei Besonderheiten sind auffällig: die Zahl der Erkrankten und die Gleichzeitigkeit. Wenn es einer wäre, dann könnte es sich um eine neurologische Anomalität handeln. Wenn es viele wären, dann hätten wir eine Epidemie. Aber drei? Und gleichzeitig? Überlegen Sie bitte – die Ursachen, die wir noch nicht kennen, müssen jedenfalls auf sehr viel mehr Menschen eingewirkt haben – ob im Betrieb, ob im Wohngebiet. Vielleicht ist es so, daß Ihr Mann und die andern beiden für diese Ursachen besonders empfänglich waren, sozusagen speziell disponiert? Wenn wir nun Ihre Aufzeichnungen mit denen von den Verwandten der anderen vergleichen, stoßen wir eventuell auf
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