Das Rätsel Sigma
Gemeinsamkeiten, und wenn es uns gelingt, darin diese besondere Empfänglichkeit zu erkennen, können wir vielleicht von dort aus zu den wirklichen Ursachen vorstoßen. Wir müssen einfach mehr wissen.“
„Ich werde alles aufschreiben“, sagte die Frau.
Der Chefarzt nickte, öffnete ihr die Tür und geleitete sie hinaus. „Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe“, mahnte er noch einmal. „Es gibt keinerlei Grund für Katastrophenstimmung. Eine akute Gefahr besteht nicht. Bald wissen wir mehr.“
Plötzlich fühlte er, daß er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Er wandte sich an eine Schwester. „Sie geben Frau Kottner einen Platz, wo sie ungestört schreiben kann. Ich lege mich eine Stunde hin, dann wecken Sie mich.“
„Es sind inzwischen drei neue Fälle“, sagte die Schwester. „Ich wollte Sie aber nicht stören.“
Einen Augenblick schien es, als würde der Chefarzt seine Müdigkeit überwinden. Dann jedoch schüttelte er den Kopf. „Trotzdem“, erwiderte er gähnend.
Wiebke öffnete die Glastür, die die beiden Teile das Labors miteinander verband, und rief: „K. O. bist du das? Komm schnell, eine Sensation!“
Dieses Labor – offiziell existierte es gar nicht. Offiziell war der eine Raum das Arbeitszimmer der Verfahrensingenieurin Wiebke Lehmann und der andere ein Abstellraum. Und Konrad Ohnverricht, der Alte, Grauhaarige, den alle mit seinen Anfangsbuchstaben anredeten, auch seiner plattgedrückten Nase wegen, die er sich in sportlichen Jugendjahren erworben hatte – K. O. also war offiziell nur einer von einem Dutzend Forschungsfacharbeitern hier im Betrieb. Praktisch aber war es ein Labor, und fast alle Fortschritte, die der Betrieb bisher gemacht hatte, waren von diesem Labor ausgegangen. Jeder wußte das, auch die übergeordneten Leitungen, wenigstens die Leute dort, auf die es ankam, und eigentlich scheute man wohl nur den Aufwand an Papier, den die offizielle Aufnahme des Labors in die Struktur-, Kader-, Lohn- und sonstigen Akten gefordert hätte. Denn das hätte sich kaum gelohnt, der ganze Betrieb war ein Provisorium, gedacht für vielleicht fünf Jahre, von denen drei schon herum waren, weil…
Also das war so gekommen.
Als die Plaste die Welt eroberten, brachten sie außer ihren vielen hervorragenden Eigenschaften noch ein Problem mit sich: Wohin mit ihnen, wenn sie ausgedient hatten? Wind, Wetter und Wasser konnten ihnen nichts anhaben. Verbrennen verpestete die Luft. Zuerst landeten die Gegenstände aus Plaste – mit anderem Abfall – auf Müllkippen. Aber es wurden immer mehr, zu den Plastabfällen aus den Haushalten kam bald ein ständig wachsender Anteil aus der Industrie. Nach und nach wurden verschiedene Methoden ausgearbeitet, die Plaste zu verrotten. Und schließlich, vor etwa einem Jahrfünft, war man dazu übergegangen, mit der Einführung eines neuen Plasts zugleich seine Vermüllung zu regeln. Zugleich mit dem neuen Betalon wurden Mikroorganismen gezüchtet, die es so zersetzten, daß die Endstoffe wieder in die Plastproduktion zurückfließen konnten.
Was im Labor gelingt, wirft tausend Probleme auf, wenn man es technisch anwenden will – besonders dann, wenn es sich um eine ganz neue Produktion handelt. Die Übernahme des Verfahrens in technischen Anlagen moderner Größenordnung wäre ökonomisch riskant. Diese Lücke füllt die industrielle Produktion kleineren Ausmaßes, die technologische und andere Erfahrungen liefert und den Nachweis der Rentabilität zu bringen hat – die Forschungsproduktion.
Die FBV – die Forschungsproduktion Betalonvermüllung – wurde im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung der sozialistischen Länder in der DDR eingerichtet, und zwar als Teilbetrieb des Forschungskombinats Sekundärrohstoffe; eingerichtet, wie schon gesagt, für fünf Jahre. Die FBV war also gewissermaßen eine Fabrik auf Zeit. Wo bringt man eine solche Fabrik unter?
Früher hatte man sich sozialistische Großforschung nur in eigens dafür errichteten Hochhauskomplexen vorstellen können, auf engstem Raum konzentriert. Aber zu jener Zeit war das Telefon noch eine launische Einrichtung, der niemand viel Vertrauen entgegenbrachte, das Video wurde gerade erst entwickelt, auf VHF- und noch nicht auf Laserbasis. Konferenzen und Sitzungen, wissenschaftliche Diskussionen und Besprechungen mußten unter einem Dach abgehalten werden, und selbst die Datenfernübertragung steckte noch in den Kinderschuhen. Eine solche Einrichtung wie das
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