Das Rätsel Sigma
aber das Ergebnis war so überraschend, so scheinbar zufällig eingetreten, daß Wiebke eher beklommen zumute war.
„Gratuliere!“ sagte K. O. trocken.
Wiebke schob abwehrend die Hände. „Noch nicht“, sagte sie. „Erst will ich das in der Schwemme bestätigt haben.“
K. O. griff in ein Gefäß, das die gelbbraunen Explosionsrückstände vom Donnerstag enthielt. Vorsichtig zerrieb er etwas davon zwischen den Fingern. „Das Zeug wird sich zum Kalandern nicht eignen“, gab er zu bedenken. „Am besten wird sein, wir nehmen einen dünnen Betalonfilm und drücken das hier drauf.“
„Gut, mach das“, sagte Wiebke, „ich hole den Alten!“
Dr. Knabus, der Herbert Lehmann empfing, verhielt sich ganz anders als in der Nacht. Eine gute Stunde Schlaf hatte ihn in einen freundlichen und umgänglichen Mann verwandelt, der gut zuzuhören verstand.
Herbert stellte das erleichtert fest, als er berichtete, was er die Nacht über getan und erlebt hatte. „Da sind wir also beide nicht viel weiter gekommen“, sagte der Chefarzt tröstend. „Unsere Versuche, die Kranken zu wecken, sind auch fehlgeschlagen. Übrigens – was Sie herausgebracht haben, ist gar nicht so unwichtig. Wer sagt Ihnen, daß das Kraftwerk nicht doch die Quelle ist?“
„Aber die drei neuen Fälle“, wandte Herbert ein, „die haben doch nichts mit dem Kraftwerk zu tun.“
„Solange Sie nur an Strahlung und andere unmittelbare Einflüsse denken, sicherlich nicht“, sagte der Chefarzt nachdenklich. „Aber wie, wenn es sich um ein Virus handelt?“
Die Idee war ihm offenbar gerade gekommen, und sie belebte ihn. „Ein ganz neues Virus, da ja die Krankheit bisher unbekannt war. Ein neues Virus als Ergebnis einer Mutation. Hohe Mutationsraten gibt es vor allem da, wo Strahlung, Ionisation und ähnliches vorkommen, also im Kraftwerk. Die ersten Fälle sind dort aufgetreten, dann wird das Virus aus dem Werk herausgeschleppt, bevor die Krankheit ausbricht. Sie sehen, das könnte alles zusammenpassen. Könnte, sage ich, denn es ist ja erst mal nur ein Gedanke.“
„Und die Kontrollen, die durchgeführt wurden?“
„Welchen Zeitraum haben sie erfaßt? Drei Tage? Lächerlich. Ein Virus kann eine Inkubationszeit von vierundzwanzig Stunden oder von zwei Jahren haben, wenn man nur mal von bekannten Formen ausgeht. Das besagt also gar nichts. Aber wir wollen uns nicht gleich in diese Idee verlieben, ich wollte Ihnen nur zeigen, daß Ihre Arbeit im Kraftwerk durchaus nicht zu unterschätzen ist. Wenn Sie mich fragen – ich würde Sie direkt darum bitten, dort weiterzumachen. Ich glaube, das wäre die richtige Arbeitsteilung zwischen uns, solange sich nichts wesentlich Neues ergibt. – Aber nun rennen Sie nicht gleich wieder los, erst trinken wir unseren Kaffee aus. Was ist Ihnen denn sonst noch so aufgefallen? Ist Ihnen etwas merkwürdig vorgekommen? Dann raus damit. Vermutungen sind immer die Mütter der Hypothesen!“
„Ich weiß nicht“, sagte Herbert, „mir ist nur aufgefallen, daß das Einschlafen wahrscheinlich sehr schnell vor sich geht, ohne daß der Betreffende vorher etwas merkt. Ich glaube, darin liegt eine Gefahr. Sie sollten vom Rat der Stadt vorbeugende Maßnahmen verlangen. Bei den Kraftfahrern und im Kernkraftwerk läuft das schon, gefährdete Posten werden doppelt besetzt. Aber das müßte jetzt ausgedehnt werden, glaube ich, nach den drei neuen Fällen.“
„Ja, das ist wohl angebracht, ich werde es gleich veranlassen.“ Der Chefarzt notierte sich etwas, da wurden sie gestört. Ein Assistent stürzte herein. „Bei Kottner jetzt paradoxer Schlaf, zehn Minuten. Bei der Jendrich auch!“
„Sehr gut, danke“, sagte der Chefarzt, „ich komme mir das gleich ansehen!“
„Ist das ein gutes Zeichen?“ fragte Herbert.
„Ich hoffe“, sagte der Chefarzt. „Eine Art Normalisierung ist es auf jeden Fall.“ Er sah Herbert ins Gesicht und bemerkte dessen Wißbegierde. „Wissen Sie, ich könnte Ihnen ja ungefähr erklären, was das mit den Schlafarten auf sich hat, doch ich erwarte heute noch einen Spezialisten, der kann das sicher besser. Also – wenn etwas sein sollte, sage ich Ihnen Bescheid. Umgekehrt ebenso. Einverstanden?“
Der Zugang zur eigentlichen, hermetisch abgeschlossenen Abteilung der Betalonvermüllung führte durch eine Wand von Duschkabinen, in denen man die Kleidung ablegen, den Körper biologisch entaktivieren und Schutzkleidung anziehen mußte – nicht um sich selbst, sondern um die
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