Das Raetsel von Flatey
wird niemand vom
Meer geworfen. Das nächste Stück Treibholz und dieser
Tanghaufen da vorne liegen mehr als dreißig Faden
tiefer.«
Högni erschrak sichtlich.
»Kann es sein, dass ...« Er brach den Satz abrupt
ab.
Grímur sah sich um.
»Doch, er muss am Leben gewesen sein, als er hier auf der
Insel landete.«
Er betrachtete die Leiche eine ganze
Weile, gab sich dann einen Ruck und begann, die Umgebung genauer zu
untersuchen.
»Seht mal da hinten«,
rief er. Kjartan und Högni blickten in die Richtung, in die er
deutete.
Unter einem etwas
überhängenden Felsen war Treibholz so aufgestellt worden,
dass es einen kleinen Unterschlupf bildete, gerade so groß,
dass ein Mann dort hineinkriechen und der Länge nach Schutz
finden konnte.
»Das hat bestimmt dieser Mann
gemacht, nachdem er hier angetrieben worden war. So etwas
Stümperhaftes stammt auf keinen Fall von den
Endenkate-Männern.«
»Konnte er denn nicht auf sich
aufmerksam machen?«, fragte Kjartan. Der Gedanke, dass der
Mann da geraume Zeit, wahrscheinlich sogar im tiefsten Winter,
dahinvegetiert hatte, war äußerst
beklemmend.
Grímur antwortete:
»Nein, es sei denn, er hätte etwas zum Feuermachen
dabeigehabt. Die Route des Postboots liegt viel weiter westlich,
und bis zu den nächsten bewohnten Inseln ist es sehr, sehr
weit. Hier ist nämlich nie etwas aus dem Meer zu holen,
deswegen kommt niemand mehr in diesen Teil des Fjords, wenn die
Männer von Endenkate nach dem Ausschlüpfen der
Eiderküken die restlichen Daunen aus den Nestern geholt haben.
Erst mehr als ein halbes Jahr später kommen sie im
Frühjahr wieder, um die Seehundnetze auszulegen. Die restliche
Zeit ist hier einfach niemand
unterwegs.«
»Ist er dann
verhungert?«, fragte Kjartan.
»Ja, und erfroren. Wenn er kein
Feuer gehabt hat, um sich warm zu halten ... Erst recht, wenn er
womöglich nass angetrieben wurde.«
»Wie zum Kuckuck ist er denn so
weit in den Fjord hineingekommen?«, fragte Högni.
»Ich seh hier nichts, was ihn hätte bis hierher tragen
können. Hier kommen keinerlei Schiffe vorbei, sodass er auch
nicht über Bord gegangen sein kann.«
Grímur sagte:
»Möglicherweise ist er mit einem Boot hierher gekommen,
das dann abgetrieben ist. So was hat’s schon
gegeben.«
»Das hätte sich doch wohl
herumgesprochen, wenn hier im Fjord ein Mann und noch dazu ein Boot
vermisst worden wären.«
»Vielleicht kam er ja von
weiter her«, sagte Grímur.
»Egal. Er wäre trotzdem
vermisst worden«, sagte Högni mit
Nachdruck.
»Im vergangenen Winter hat es
hier weiter westlich von Island einige Havarien gegeben. Einige
Seeleute wurden für tot erklärt. Vielleicht hat es einer
von denen in ein Rettungsboot geschafft, das dann mit der
Strömung in den Fjord hineingetragen wurde und hier
angetrieben ist.«
»Und das
Boot?«
»Das ist wieder
abgetrieben.«
»Nein.« Högni war
anderer Meinung. Er kniete bei der Leiche nieder und schaute sich
die Kleidung näher an.
»Das hier ist auf gar keinen
Fall ein Seemann. Sieh doch nur die Schuhe. Das sind Bergschuhe,
wie die ausländischen Reisenden sie tragen, aus
Leder.«
Sie holten den Kasten und legten ihn
mit der Öffnung zur Seite direkt neben der Leiche auf den
Boden. Grímur und Högni schoben die Leiche mit den
Schaufeln in die Kiste, und Kjartan stemmte dagegen. Dann brachten
sie die Kiste in eine waagerechte Position, und die Leiche fiel
hinein, mit dem Bauch nach unten. Das Gras, das unter ihr zum
Vorschein kam, war gelb und tot, abgesehen von den
Schmeißfliegen, von denen es dort nur so
wimmelte.
»Sollen wir ihn vielleicht
umdrehen?«, fragte Kjartan.
»Nein«, antwortete
Grímur. »Dem ist es wahrscheinlich auf so einer kurzen
Reise egal, wie herum er liegt.«
Er zog ein Fläschchen aus der
Tasche, schraubte den Deckel ab und leerte es in die Kiste.
»Das hat mir die Frau Doktor gegeben«, erklärte
er. »Das nimmt den Gestank weg und tötet sowohl Fliegen
als auch Maden.«
Sie schraubten den Deckel, der mit
einer Dichtungsleiste versehen war, fest auf die Kiste, die dadurch
fast luftdicht verschlossen wurde.
Sie durchkämmten die Insel
systematisch und suchten nach weiteren Hinweisen, die
Rückschlüsse auf die Anwesenheit dieses Mannes erlaubten.
Auf einem Stück Wiese ganz oben auf der Insel waren flache
Steine so angeordnet worden, dass sie deutlich die Buchstaben SOS
bildeten, jeder Buchstabe etwa drei Meter lang. Bei dem
Unterschlupf fanden sie eine Kunststoffschale mit
Weitere Kostenlose Bücher