Das Raetsel von Flatey
ein bisschen
Wasser darin und ein paar zerbrochene Muscheln. Drinnen war aber
sonst nichts. Sie schauten sich sämtliche in Frage kommenden
Felsen an, falls der Mann etwas in einen glatten Stein zu ritzen
versucht hätte, aber sie fanden nichts, was auf das Einwirken
von Menschenhand hindeutete. Auf einem flachen Felsen entdeckten
sie aber zahlreiche kleine Steine, die ganz danach aussahen, als
hätten sie ein Wort gebildet, das dann aber von den
Naturgewalten durcheinander geworfen worden war. Kjartan skizzierte
es, so gut er konnte, auf einem Blatt. Da, wo die Anordnung noch
ziemlich intakt war, verschob er ein paar Steine und versuchte, ein
Wort zu bilden.
Grímur und Högni
verfolgten sein Treiben aufmerksam. »Glücksstern? Sagt
euch das was?«, fragte Kjartan.
»Eigentlich nicht«,
antwortete Högni. »Aber auf den Hvallátrar-Inseln
gibt’s einen Zuchtbullen, der so heißt. Das Biest bekam
seinen Namen, als es in jungen Jahren bei Ebbe auf eine Schäre
hinaufgewackelt ist, die bei Flut unter Wasser steht. Es musste
dann um sein Leben schwimmen. Es war eine ganz schöne Strecke
zurück an Land, und vermutlich hätte der Bulle es nicht
geschafft, wenn nicht zufälligerweise einige Leute aus
Skáley da vorbeigekommen wären, die zu einer
Tanzveranstaltung nach Flatey wollten. Erst hielten sie das Tier
für einen schwimmenden Seehund, aber dann richtete es die
Ohren auf. Ein Seehund mit Ohren hatte man aber hier im
Breiðafjörður noch nie gesichtet, weswegen das
Stierkalb kurzerhand an Bord gehievt wurde. Es wurde mit nach
Flatey genommen und kriegte dort vorübergehend ein
Plätzchen im Kuhstall, bis es sich wieder etwas von den
Strapazen erholt hatte.«
Grímur und Högni trugen
die Kiste zum Meer hinunter und schafften sie an Bord. Dann machten
sie sich auf den Weg zurück nach Flatey.
»Ist so was früher schon
mal hier auf den Inseln passiert?«, fragte Kjartan, als
Högni die Kiste an der Ruderbank festband.
Högni sagte: »Es gibt
Geschichten, dass Leute auf einsamen Inseln gefunden wurden, und
zwar lange nach einem Schiffsunglück. Dieser Mann hier ist
aber auf der Insel gewesen, ohne dass irgendjemand Grund zu der
Annahme gehabt hätte, dass irgendwas nicht so war, wie es sein
sollte. Nein, von so was hab ich hier in unserem Fjord noch nie
gehört.«
Obwohl der Sarg fest verschlossen
war, hing Kjartan während der ganzen Rückfahrt der
Leichengeruch in der Nase. Und trotz ziemlich glatter See war ihm
speiübel, und er musste sich immer wieder über die
Bordkante erbrechen. Die Männer aus Flatey hingegen sprachen
dem Schnupftabak ungewöhnlich oft zu.
*
... In den letzten Jahrzehnten des
14. Jahrhunderts lebte ein Großgrundbesitzer in
Víðidalstunga im Húnavatn-Bezirk, der Jón
Hákonarson hieß. Heutzutage würde er wohl
völlig in Vergessenheit geraten sein, wenn er nicht auf die
Idee gekommen wäre, dieses Königsbuch zusammenstellen zu
lassen, das dann sehr viel später den Namen
Flateyjarbók erhielt. Die Abfassung dieser Handschrift hatte
viele Jahre gebraucht, und im Jahre 1387 war sie zum
größten Teil fertig gestellt. In den folgenden Jahren
wurde noch einiges hinzugefügt, und die angehängte
historische Chronik endet im Jahre 1394 ...
... Schwer zu sagen, was
Jón Hákonarson dazu bewogen hat, diese Sagas
aufschreiben zu lassen. Möglicherweise war diese Handschrift
als Geschenk für einen Mann gedacht, der damals kurz davor
stand, König von Norwegen zu werden. Er trug den gleichen
Namen wie andere große Könige aus früheren
Jahrhunderten, die Olaf geheißen hatten, und deswegen wurden
vermutlich große Hoffnungen an ihn geknüpft. Das
Pergamentbuch war in der Tat eine Kostbarkeit, die einem
Königshof zur Ehre gereicht hätte. Aber um die gleiche
Zeit, als das Buch fertig gestellt war, ist dieser Olaf entweder
gestorben oder irgendwo in Dänemark verschollen. Mit ihm starb
das Geschlecht von Harald Haarschön aus. Olafs Mutter
Margarete übernahm die Herrschaft und regierte bis 1412
...
Sechs
Gegen sieben Uhr abends steuerte Grímur
das Boot wieder auf die Mole von Flatey zu. Dort hatte sich
Kormákur Kolk aufgestellt und hielt seinen Hut mit beiden
Händen. An seiner Seite stand ein kleiner Leiterwagen mit
großen hölzernen Rädern. Ganz in der Nähe
wartete auch der Pastor im Talar und mit einem Gesangbuch in der
Hand, aber ansonsten war niemand zu sehen. Die Kinderschar, die
sich mittags dort so auffällig herumgetrieben hatte, war
nirgends mehr zu erblicken, und
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