Das Raetsel von Flatey
ihm. Aber er hatte was ganz anderes im Sinn, und mitten in
der Nacht schlich er sich splitternackt in die Kammer von meiner
Tochter Hafdís und bildete sich ein, er könnte so mir
nichts, dir nichts zu ihr ins Bett steigen. Er wollte sie
vernaschen, der verdammte Kerl!«
»Und was geschah
dann?«
»Also, unsere Oma schläft
mit ihr in einem Zimmer, und die hat einen leichten Schlaf. Sie
erwischte ihn auf der Bettkante und hat’s ihm gegeben. Ich
glaube, sie hat ihren Nachttopf über ihn ausgeleert. Er war
auf jeden Fall von hinten klatschnass, als ich ihn im Gang
erwischte und hinausbeförderte. Ich habe dann seine Sachen
zusammengesucht und vor die Tür
gestellt.«
»Du hast ihn danach nicht
wiedergesehen?«
»Nein, und ich hatte auch nicht
das geringste Verlangen danach. Mich hat’s aber nicht
überrascht, dass der Mann ein solches Ende gefunden
hat.«
»Wie
bitte?«
»Ja, als ich in seine Tasche
guckte, um zu kontrollieren, ob er irgendwas geklaut hätte, da
lagen da zuoberst die Blätter mit dem Flatey-Rätsel, die
sich in der Bibliothek befinden müssen und nicht entfernt
werden dürfen. Ich bin dann in aller Herrgottsfrühe zu
Hallbjörg gegangen und habe mir den Schlüssel von der
Bibliothek ausgeliehen, um die Blätter wieder
zurückzubringen. Sie sagte mir, dass der Bevollmächtigte
des Bezirksamtmanns am Samstag als Letzter in der Bibliothek
gewesen sei und dabei wahrscheinlich vergessen habe, hinter sich
abzuschließen. Die wissen nicht, was wertvoll ist, diese
studierten Leute aus Reykjavík, und können nicht mit so
etwas umgehen.«
»Ist das der einzige
Schlüssel zu dem Haus?«
»Ja, abgesehen von dem
Schlüssel, den sich der verstorbene Björn Snorri
ausgeliehen hatte. Er war so oft in der
Bibliothek.«
»Du bist ganz sicher, dass du
Bryngeir am Sonntagabend nicht wiedergesehen
hast?«
Sigurbjörn wurde wütend.
»Nein, selbstverständlich
habe
ich ihn nicht mehr gesehen. Glaubst
du vielleicht, dass ich lüge? Glaubst du vielleicht, dass ich
diesen Saunickel auf den Friedhof geschleift, ihn über einen
Grabstein gelegt und ihm einen Blutadler auf den Rücken
geritzt habe, bloß weil er die Gastfreundschaft missbraucht
hat?«
»Einen Blutadler
geritzt?«, fragte Ingimundur.
»Ja.«
»Was meinst du
damit?«
»Na, das liegt doch wohl offen
zutage. Jemand hat ihm einen Blutadler auf den Rücken geritzt.
Hast du etwa Flateyjarbók nicht
gelesen?«
»Nein.«
Sigurbjörn schüttelte
missbilligend den Kopf und fragte: »Werden denn heutzutage
überhaupt keine Bildungsanforderungen mehr an die Polizei
gestellt?«
Ingimundur antwortete von oben herab:
»Flateyjarbók kann ja wohl kaum als
Pflichtlektüre für Polizisten
gelten.«
Sigurbjörn grinste: »Ach
nee. Wäre aber wohl besser gewesen. Ich will mal versuchen, es
dir zu erklären. Sigurd der Drachentöter hat in Friesland
mit Lyngvi Hundingsson gekämpft und ihn gefangen genommen.
Dann wurde darüber geredet, was für einen Tod Lyngvi
erhalten sollte. Reginn schlug vor, ihm einen Blutadler auf den
Rücken zu ritzen, und so wurde es gemacht. Reginn trennte mit
seinem Schwert die Rippen von der Wirbelsäule und zog dann die
Lungen heraus. Da starb Lyngvi eines tapferen Todes. So war das
also, und dann gibt es auch Erzählungen über Blutadler in
der Saga von den Orkadenjarlen und noch in einer anderen Saga, wenn
ich mich richtig erinnere. Es liegt doch meines Erachtens auf der
Hand, dass genau das mit dem elenden Kerl auf dem Friedhof gemacht
wurde.«
Die Kriminalbeamten blickten einander
an, während Sigurbjörn fortfuhr: »Und dann die
Sache mit diesem Dänen. Auch in Bezug auf sein Schicksal kann
man eine Parallele in Flateyjarbók finden, aber
wahrscheinlich kennt ihr diese Geschichte auch nicht,
oder?«
Ingimundur schüttelte den Kopf.
»Und wie lautet die?«, fragte er.
»Das steht in der Saga von Olaf
Tryggvason. Eyvind kelda kam mit seinen Männern nach
Ögvaldsnes und hatte vor, den König Olaf umzubringen. Mit
Zauberei produzierte er einen undurchdringlichen Nebel, damit der
König sie nicht sehen könnte, aber in diesem Nebel
verirrten sie sich auch selbst so, dass sie im Kreis gingen. Die
Leibwächter des Königs sahen diese Truppe, und die
Männer wurden festgenommen. Der König verlangte, dass sie
dem Irrglauben entsagten und an den einen wahren Gott glaubten. Als
Eyvind und seine Mannen das rundheraus ablehnten, wurden sie auf
eine Insel gebracht, wo sie jämmerlich umkamen. Die Insel
heißt seitdem
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