Das Raetsel von Flatey
aufrechterhalten?«
»Mit Unterbrechungen. Nachdem
mein Bruder gestorben war, verschwand sie aus unserem Leben. Sie
ging eine unglückliche Verbindung zu einem Mann ein, die ein
paar Jahre andauerte. Beim Medizinstudium war sie mir ein paar
Semester voraus, und wir nahmen den Faden wieder auf, als ihre
Beziehung mit diesem Mann zu Ende war. Sie war in diesen Jahren
zutiefst unglücklich, aber sie hat trotzdem ihr Studium
glänzend absolviert. Ich glaube, sie ist zwischendurch sogar
bei einem Psychiater in Behandlung gewesen.«
Eine Krankenschwester kam den Gang
entlanggelaufen. Sie rief: »Kristín, komm bitte
sofort. Der Junge hat wieder angefangen zu
bluten!«
*
»29. Frage: Hieb das Ohr von
König Sverrir ab. Erster Buchstabe.
Ganz in der Nähe lag ein
schwer verwundeter Mann. Es war Brynjolf, der Sohn des Sendboten
Kalf von den Färöer-Inseln. Es gelang ihm, sich kniend
aufzurichten und mit dem Schwert auf den Hals von König
Sverrir zu zielen. Er traf aber den stählernen Helm am Rand
mit der Schwertspitze. Das Schwerthieb schnitt aber das Ohr ab und
strich am Hals entlang, und das war eine schlimme Wunde. Im
gleichen Moment richteten sich Spieße und Schwerter so dicht
auf Brynjolf, dass er nicht umsinken konnte .
Die Antwort ist Brynjolf, und der
erste Buchstabe ist B.«
Sechsundvierzig
Frau Alfríður im Pfarrhaus empfand es als eine Zumutung,
so mir nichts, dir nichts von der Kriminalpolizei aus
Reykjavík zu einer Vernehmung herbeizitiert zu werden.
Lehrer Högni wurde mit der Vorladung zum Pastor und seiner
Gattin geschickt, und die Pfarrersfrau ließ ihrem Unmut
freien Lauf. Högni stand verlegen im Flur und drehte seine
Mütze zwischen den Händen, während Pastor Hannes
seine Frau zu beschwichtigen versuchte.
»Aber Fríða, das ist
doch ein ganz normales Ansinnen seitens der Obrigkeit«, sagte
er in bittendem Ton.
»Ansinnen, pah. Wir sind im
Kirchendienst!«
»Ja, aber es ist doch nur der
Form halber. Sie müssen mit allen Einwohnern von Flatey
sprechen.«
»Können sie uns nicht
wenigstens den Respekt erweisen und sich hierher zu uns begeben,
diese Herren. Damit wir nicht vor aller Augen wie jeder x-beliebige
Delinquent dorthin müssen.«
Pastor Hannes versuchte, es zu
erklären: »Die Herren sind überaus
beschäftigt, meine Liebe. Sie müssen ein brutales
Gewaltverbrechen aufklären.«
Frau Alfríður brach in
Tränen aus: »Ja, genau. Und ausgerechnet wir werden
damit in Verbindung gebracht!«
»Nun hör doch mal, meine
liebe Fríða«, sagte der Pastor und legte ihr
seinen Arm um die Schultern. »Sag den Leuten, dass wir um elf
Uhr da sind«, sagte er zu Högni.
»Um halb zwölf, und keine
Minute früher«, erklärte Frau Alfríður
schluchzend.
Mit diesem Bescheid ging Högni
zur Schule, und Grímur änderte die Reihenfolge der
Vorladungen, um den Wünschen der Pfarrersgattin
entgegenzukommen. Die Vernehmungen bislang waren gut verlaufen, und
die Polizisten zeigten noch keine Ermüdungserscheinungen. Die
meisten Gespräche dauerten zehn bis fünfzehn Minuten. Die
Leute sagten aus, wo sie am Sonntagabend und in der Nacht zum
Montag gewesen waren. Sie gaben auch die Namen derjenigen an, die
diese Aussagen bestätigen konnten. Das ging alles rasch und
problemlos vonstatten, und es gab keine Unstimmigkeiten in den
Aussagen. Ein Gesamtbild von Bryngeirs Unternehmungen in diesen
zwei Tagen begann sich herauszukristallisieren. Eigentlich war es
nur diese eine Stunde während des Pfingstgottesdienstes, wo
niemand wusste, was er getrieben hatte. Mit Ausnahme von
Jóhanna und zwei auswärtigen Fischern, die in einer
alten Hütte ihren Rausch ausschliefen, waren alle in der
Kirche gewesen.
Jón Ferdinand war nur zwei
Minuten bei den Beamten drinnen. Ingimundur notierte
»senil« auf sein Blatt und schickte ihn dann wieder
hinaus. Als Nächster wurde der kleine Nonni aufgerufen, der
alles bestätigte, was Valdi über ihre Unternehmungen
gesagt hatte. Sie waren den ganzen Abend zu Hause bei sich gewesen
und hatten Meerpastete gemacht.
Pünktlich um halb zwölf
erschienen der Pfarrer und seine Gattin.
Högni klopfte an die Tür
des Klassenzimmers, streckte die Nase zur Tür herein und
meldete, dass die beiden da seien. Postmeisterin Stína war
gerade fertig mit ihrer Aussage, hatte aber zu ihrem großen
Leidwesen nichts Neues beizusteuern. Sie gab jedoch zu, dass die
Hausfrau vom Rathof ihr am Sonntagabend vertraulich mitgeteilt
hatte, dass der Reporter aus Reykjavík behauptete,
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