Das Rätsel
wissen, wie es dazu gekommen war, dass sie beide sich auseinandergelebt hatten, doch ihr fiel kein bestimmtes Ereignis ein. Es hatte nie einen Krach, einen lauten Streit oder Tränen gegeben, die der Distanz zwischen ihnen vorausgegangen wären.
Stattdessen war es – wurde ihr klar – ein schleichender Prozess gewesen, bis am Ende eine Wand aus Zweifel und Isolation zwischen ihnen stand. Wenn sie versuchte, ihre Empfindungen zu analysieren, so lief es auf das vage Gefühl hinaus, dass er sie im Stich gelassen und ihr die Verantwortung für ihre Mutter zugeschoben hatte.
Als das Flugzeug auf die geteerte Rollbahn aufsetzte, schärfte sich Susan ein, dass die Ereignisse der kommenden Tage die Beziehung zu ihrem Bruder nicht berührten, und so verbannte sie alle damit zusammenhängenden Gefühle in einen hinteren Winkel ihres Bewusstseins, wo sie ihr, bis es vorbei war, nicht in die Quere kommen konnten. Für eine Frau, die komplizierte Rätsel meisterte, war dies ein seltsamer Trugschluss.
Jeffrey wartete an der Gangway. Er war in Begleitung eines schlaksigen Texas-Rangers – eine perfekte Karikatur. DerRanger trug eine Sonnenbrille mit Spiegelglas, einen breitkrempigen Cowboyhut, dazu aufwendig beschlagene spitze Stiefel. Außerdem hing ihm eine Automatik über der Schulter und eine kalte Zigarette zwischen den Lippen.
Bruder und Schwester umarmten sich zaghaft. Dann sahen sie sich auf Armeslänge ein paar Sekunden an.
»Du hast dich verändert«, stellte Susan fest. »Sehe ich das erste graue Haar?«
»Nicht ein einziges«, protestierte Jeffrey. Er grinste. »Hast du abgenommen?«
Jetzt war es an Susan zu schmunzeln. »Nicht ein einziges Pfund, verdammt.«
»Dann vielleicht zugenommen?«, fragte er.
»Nicht ein einziges Pfündchen, Gott sei Dank«, erwiderte Susan.
Er ließ ihre Arme los. »Wir müssen los«, sagte er. »Wenn wir noch heute Nachmittag zurück wollen, bleibt uns nicht viel Zeit.«
Der Ranger deutete zum Ausgang. Auf Susans unausgesprochene Frage erklärte Jeffrey: »Die Behörden in diesem Staat schulden mir einen Gefallen, deshalb der Geleitschutz und ein schneller Fahrer.«
Susan sah sich die Waffe des Mannes an. »Das ist eine Ingram, oder? Passen zweiundzwanzig Hochdruckpatronen Kaliber fünfundvierzig in den Ladestreifen. Feuert den gesamten Streifen in weniger als zwei Sekunden ab, stimmt’s?«
»Ja, Ma’am«, bestätigte der Ranger staunend.
»Mir ist ’ne Uzi lieber«, meinte sie.
»Nur dass die manchmal klemmen, Ma’am«, gab er zu Bedenken.
»Meine nicht«, hielt sie dagegen. »Wieso ist die Zigarette nicht angezündet?«
»Wissen Sie denn nicht, dass Rauchen gefährlich ist, Ma’am?«
Susan lachte und gab Jeffrey einen Klaps auf die Schulter. »Der Ranger hat Sinn für Humor«, sagte sie. »Fahren wir los.«
Sie stiegen in das Fahrzeug ihres Beschützers und fuhren binnen weniger Minuten mit über hundert Stundenmeilen durch den Staub von Südtexas.
Eine Weile starrte Susan aus dem Fenster und betrachtete die endlose Weite, bevor sie sich an ihren Bruder wandte. »Und der Mann, den wir treffen?«
»Er heißt Hart. Achtzehn Morde konnte ich direkt mit ihm in Verbindung bringen. Es gibt wahrscheinlich noch einige mehr, von denen ich nichts weiß und die er auch anderen nicht auf die Nase gebunden hat. Hat wahrscheinlich auch einige vergessen. Ich habe bei seiner Verhaftung geholfen. Er war gerade dabei, ein Opfer auszuweiden, als wir kamen, und er war von der Störung nicht begeistert. Er hat mir mit einem ziemlich großen Jagdmesser einen Schnitt erster Güte im Oberschenkel beigebracht, bevor er wegen seines eigenen Blutverlusts in Ohnmacht fiel. Zwei Salven von einem der Detectives, die er getötet hatte. Teflonbeschichtete Hochgeschwindigkeitsgeschosse, Neun-Millimeter-Patronen. Ich hätte gedacht, die würden ein Rhinozeros zur Strecke bringen, aber nicht ihn. Jedenfalls hat man ihn in der Notaufnahme verdammt schnell zusammengeflickt und ihn durchgebracht, damit er seinen Wohnsitz im Todestrakt beziehen kann.«
»Und nicht mehr für lange, Professor«, unterbrach ihn der Ranger. »Der Gouverneur unterschreibt übermorgen einige Todesurteile, und was man so aus Austin hört, führt der gute alte Hart die Hitparade an. Hat sowieso den ganzen juristischen Scheiß ausgeschöpft, wenn Sie meine Ausdrucksweise verzeihen, Ma’am.«
»Texas hat, wie eine Menge Staaten, bei Todesurteilen Berufungsverfahren beschleunigt«, erklärte Jeffrey seiner
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