Das Rätsel
Morgen hörte sie nur die Geräusche des normalen Lebens und erkannte darin die große Vision des Einundfünfzigsten Bundesstaats. Sie hatte angenommen, dass sie die Normalität banal oder irritierend finden würde, doch das war nicht der Fall. Sie war angenehm. Hätte sie ihre Tochter ein paar Tage zuvor bei deren Zufallsbesuch im Hospiz begleitet, so hätte Diana festgestellt, dass die bewusst gewählte Stille jenes Ortes sich von der an diesem kalten Morgen kaum unterschied.
Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück, ließ jedoch die Schiebetür zum Balkon hinter sich offen, um die frische Luft ins Zimmer zu lassen. Zu Hause hätte sie das nicht getan.
Sie zog sich rasch an und ging in die Küche.
Der Kaffee, den Susan in der Maschine gelassen hatte, reichte für eine Tasse, und sie rührte Milch und Zucker unter, um die bittere Flüssigkeit zu versüßen. Sie hatte keinen Hunger und verschob das Frühstück, obwohl sie wusste, dass sie etwas essen sollte.
Als sie mit der Tasse ins Wohnzimmer kam, sah Diana, dass im Briefkastenschlitz der Haustür ein Umschlag steckte. Sie fand das seltsam und zog ihn heraus.
Der Brief war unbeschriftet, ohne Absender und Adresse.
Diana zögerte. Zum ersten Mal an diesem Morgen rief sie sich ins Gedächtnis, weshalb sie in den Einundfünfzigsten Staat gekommen war, und ebenfalls zum ersten Mal an diesem Tag machte sie sich klar, dass sie wahrscheinlich bis zum Abend allein sein würde.
Da sie Vorsicht mit Schwäche in Verbindung brachte, riss sie den Umschlag auf.
Innen steckte ein Bogen Papier. Sie faltete ihn auf und las:
Guten Morgen, Mrs. Clayton:
Es tut mir leid, dass ich Sie heute nicht persönlich auf eine zweite Stadtrundfahrt mitnehmen kann, aber wegen unserer gemeinsamen Aufgabe bin ich anderweitig unabkömmlich.
Natürlich verfügen Sie nach freiem Belieben über Ihre Zeit, aber ich möchte Ihnen ans Herz legen, unsere frische Luft zumindest bei einem kurzen, zügigen Spaziergang zu genießen.
Hier die beste Route:
Halten Sie sich, wenn Sie aus der Haustür kommen, links und lassen Sie Schwimmbad und Tennisplätze rechts liegen. Biegen Sie rechts auf den Donner Boulevard ein. Ist es nicht erstaunlich, wie viele Dinge im Westen nach diesem tragischen Siedlertreck benannt sind? Gehen Sie eine halbe Meile in dieserRichtung weiter. Wie Sie sehen werden, endet die geteerte Straße nach etwa vierhundert Metern. Doch fünfzig Meter davor biegt rechts ein Feldweg ab. Den schlagen Sie ein.
Folgen Sie ihm eine halbe Meile lang. Der Pfad wird steiler, doch die Mühe lohnt sich. Der Blick von der Anhöhe – nur nochmals zweihundert Meter weiter – ist einmalig. Und sind Sie erst da, haben Sie eine Aussicht, die besonders Ihr Sohn Jeffrey faszinierend finden wird.
Mit den besten Grüßen,
Robert Martin,
Special Agent, Staatssicherheit
Der Brief war ebenso wie die Unterschrift getippt.
Diana starrte auf die Wegbeschreibung und dachte, dass ein Morgenspaziergang eigentlich eine schöne Sache wäre und ihr die Bewegung sicher guttun würde; außerdem verstand sie den Brief in ihrer Hand weniger als eine Empfehlung denn als einen Befehl.
Worum es dabei allerdings ging, hätte sie nicht sagen können. Außerdem verwirrte sie der letzte Satz, und sie überlegte, was für ein Blick von dieser Anhöhe aus wohl Jeffrey interessieren könnte. Da musste sie passen.
Sie las den Brief noch einmal durch, warf einen Blick aufs Telefon und dachte daran, Agent Martin anzurufen und zu fragen, was genau er meinte.
Sie rief sich erneut ins Gedächtnis, wozu sie in den Einundfünfzigsten Staat gekommen war und wer sich außer ihr noch dort aufhielt.
Diana kehrte in die Küche zurück und stellte die Kaffeetasse in den Ausguss. Ohne zu zögern, ging sie zu dem Schrank, in dem Susan den Revolver versteckt hatte. Sie nahm ihn heraus, wog ihn in der offenen Hand, klappte die Trommel auf, umsicherzustellen, dass die Waffe geladen war, und machte sich auf die Suche nach ihren Straßenschuhen.
Es war das erste Mal seit fast zwei Jahren, dass sie ihren Bruder berühren konnte. Da sie erst vor wenigen Stunden seine Stimme gehört und sein Bild über das Videotelefon gesehen hatte, war ihr dieses Wiedersehen nicht bedeutsam erschienen, doch das änderte sich, als das kleine Shuttle-Flugzeug in eine scharfe Kurve ging, die Landeklappen und das Fahrgestell ausfuhr und ihr bewusst wurde, dass er da unten auf sie wartete.
Susan stieg in eine Welt der Zweifel hinab. Sie hätte sich gewünscht, zu
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