Das Rätsel
was sie miteinander teilten und was nicht. Jede Modulation in der Stimme seines Vaters, jeder kleine Manierismus, der zum Vorschein kam, gab Jeffrey einen Stich, und er fragtesich, ob auch er so sprach und ob auch er so schaute oder handelte. Es war wie das Zerrbild in einem Spiegelkabinett, und er versuchte, auszumachen, wo die Täuschung begann und wo sie endete. Jeffrey hatte das Gefühl, als hätte er mit einem Mann, der an einer hoch ansteckenden Viruskrankheit litt, dieselbe Luft geatmet und vom selben Glas getrunken; jetzt blieb ihm keine andere Wahl, als die Inkubationszeit abzuwarten und zu sehen, ob er sich angesteckt hatte oder nicht.
Er holte gierig Luft und sagte einfach nur: »Du wirst mich nicht töten.«
Sein Vater grinste wieder, und ihm war anzusehen, dass ihm die Situation das größte Vergnügen bereitete. »Vielleicht werde ich es«, erwiderte er, »vielleicht auch nicht. Aber diesmal stellst du die falsche Frage, mein Sohn.«
»Und was wäre die richtige Frage?«, konterte Jeffrey.
Der Ältere zog eine Augenbraue hoch, als erstaunte ihn entweder der Ton seines Sohnes oder die Tatsache, dass er die Antwort nicht wusste. »Die Frage lautet, ob ich es muss.«
Jeffrey hatte das Gefühl, in einem Glutofen zu sitzen. Seine Lippen waren ausgetrocknet. Er hörte seine eigenen Worte wie von ferne aus dem Mund eines Fremden.
»Ja«, antwortete er. »Ich denke, das musst du.«
Wieder sah sein Vater ihn amüsiert an. »Und wieso?«
»Weil du dir nie wieder sicher sein könntest. Weil du nie wissen würdest, ob ich irgendwo da draußen bin und dich jage. Und niemals sicher wärst, ob ich dich nicht ein zweites Mal finde. Du funktionierst nicht, solange du dich nicht sicher fühlst, und zwar hundert Prozent. So bist du gestrickt, und solange du wüsstest, dass ich noch am Leben bin, würdest du deine Zweifel nie los.«
Peter Curtin schüttelte den Kopf. »Oh doch«, widersprach er. »Ich hätte die volle Garantie.«
»Und wie?«, fragte Jeffrey in scharfem Ton zurück.
Sein Vater antwortete nicht. Stattdessen beugte er sich zu einem Lesetisch hinüber und nahm ein kleines elektronisches Gerät zur Hand. Er hob es hoch, damit es Jeffrey sehen konnte.
»Normalerweise«, erklärte sein Vater, »sind diese Dinger für junge Eltern mit Säuglingen. Ich glaube, deine Mutter hat nach deiner Geburt und der deiner Schwester so ein Ding benutzt, auch wenn ich mich nicht genau erinnern kann. Ist so lange her. Jedenfalls sind sie überaus hilfreich.«
Peter Curtin drückte einen Knopf und sprach dann in das Babyphone. »Kimberly? Bist du da? Kannst du mich hören? Kimberly, ich wollte dir nur sagen: Deine einzige Chance ist endlich eingetroffen.«
Curtin drückte auf einen anderen Knopf, und Jeffrey hörte, wie eine blecherne, verängstigte Stimme durch das Rauschen drang:
»Bitte, jemand soll mir helfen, bitte, helft mir …«
Sein Vater schnitt die Stimme mitten in ihrer flehentlichen Bitte per Knopfdruck ab.
»Ich wüsste auch gern, ob sie überleben wird«, sagte er mit einem Lachen. »Kannst du sie retten, Jeffrey? Kannst du sie, deine Schwester, deine Mutter und dich selbst retten? Bist du so stark und so clever?«
Wieder grinste er. »Ich glaube, das ist nicht möglich. Alle kannst du nicht retten.«
Jeffrey antwortete nicht. Sein Vater starrte ihn weiter an.
»Habe ich dich richtig erzogen?«
»Du hattest mit meiner Erziehung nicht das Geringste zu tun.«
Peter Curtin schüttelte den Kopf. »Ich hatte jede Menge mit deiner Erziehung zu tun.«
Wieder hielt er das Babyphone hoch.
»Was hat das mit ihr zu …«, fing Jeffrey an.
»Alles.«
Wieder schwiegen beide Männer.
In diese Stille hinein flüsterte Caril Ann Curtin zum zweiten Mal: »Peter, lass mich alle beide töten. Ich flehe dich an. Noch ist Zeit.«
Doch Peter Curtin winkte nur ab. »Wir werden ein Spiel miteinander spielen, Jeffrey. Ein äußerst gefährliches Spiel. Und sie ist die einzige Spielfigur.«
Jeffrey saß stumm auf seinem Platz.
»Es geht um einen hohen Einsatz. Dein Leben gegen meins. Das Leben deiner Mutter und deiner Schwester gegen meins. Deine Zukunft und ihre Zukunft gegen meine Vergangenheit.«
»Wie lauten die Regeln?«
»Regeln? Es gibt keine Regeln.«
»Worum geht es dann bei dem Spiel?«
»Also, ich muss schon sagen, Jeffrey, es überrascht mich, dass du das nicht erkennst. Es geht um das grundlegendste Spiel überhaupt. Das Spiel um den Tod.«
»Ich verstehe nicht.«
Peter Curtin lächelte
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