Das Regenmaedchen
das Leben beizubringen. Das ganz normale Leben. Umgang mit
Geld, Arbeitssuche, Schulabschluss, Freundschaften, Liebe, Verhütung,
Kinderkriegen. Genau in diesem Durcheinander. Und immer wieder von vorn. Es ist
eine Sisyphusarbeit, das können Sie mir glauben.«
Sie nickte, als wollte sie ihren Worten Nachdruck
verleihen. Franza nickte auch. Was hat sie denn, dachte sie und spürte den
Beginn einer Aggression in ihren Eingeweiden. Ist sie eine Heilige? Haben wir
nicht alle Sisyphusarbeit zu erledigen?
Es grummelte und wütete in ihrem Magen, eine feste Faust,
die sich zusammenpresste und ihr den Atem nahm. Und, dachte sie weiter, voller
Spott, du heilige Frau von Sisyphuslanden, löst du deine Bürden? Wieder nickte
die Frau. Kann sie Gedanken lesen, fragte sich Franza verwirrt, lernt man das
in ihrem ach so empathischen Beruf?
»Vor allem versuchen wir sie aus der Spirale von Gewalt zu
lösen, in der sie sich häufig befinden.«
Ach ja. Was für eine Neuigkeit! War das zu erwarten
gewesen?
Die Faust in Franzas Magen ballte sich mehr und mehr
zusammen. »Und?
Gelingt Ihnen das?«
Franza spürte Herz' erstaunten Blick und wusste selbst
nicht, warum sie plötzlich so aggressiv war. Vielleicht war es an der Zeit,
sich einzugestehen, dass die hinter ihr liegenden Ereignisse dieses Tages sie
doch mehr mitgenommen hatten, als sie hatte zugeben wollen.
Die Sozialarbeiterin legte den Kopfschief, verzog das
Gesicht. »Nicht immer«, sagte sie dann betont freundlich. »Lösen Sie alle Ihre
Fälle?« Herz musste ein bisschen grinsen. »Nein«, sagte er, »leider nicht. Aber
könnten wir uns wieder auf Marie konzentrieren?«
»Selbstverständlich«, sagte die Frau. »Aber ich habe Ihnen
noch gar nichts angeboten. Kaffee?« Sie erhob sich.
Als sie schließlich vor dampfenden Kaffeetassen und
billigen Kaufhauskeksen saßen, die Franza im Gegensatz zu Herz mit Verachtung
strafte, sprachen sie endlich über Marie. Sie hatte schon alle möglichen
Sozialeinrichtungen durchlaufen, bevor sie in diesem Wohnprojekt gelandet war,
das sich FLÜGEL nannte.
Scheißname, dachte Herz, das ist ja wohl phänomenal
daneben. »Interessanter Name«, sagte er und spürte, wie Franza ihn feindselig
anstarrte. »Wie sind Sie denn auf den gekommen?«
»Ja, nicht wahr?«, sagte Hauer und lächelte ein wenig
verlegen. Ein zartroter Schein der Freude überzog kurz ihr Gesicht und verlieh
ihm ein feines Glühen. »Nun, ich weiß gar nicht mehr. Es ist uns irgendwie
eingefallen. Wir wollten uns einen hoffnungsvollen Namen geben. Und Flügel ...
fliegen, das schien uns die Hoffnung schlechthin.«
Felix lächelte höflich und nickte, dann kam er zurück auf
ihr Thema. »Marie?« Die Sozialarbeiterin seufzte. »Ja. Marie.«
Die immer wieder von zu Hause abgehauen war. Die sich
nächtelang in Parks herumgetrieben hatte, auf Bahnhofsvorplätzen geschlafen
hatte, in Notschlafstellen untergekrochen war, nicht mehr in der Lage, klar zu
denken und zu fühlen, dem Rausch der Tabletten ergeben, dem Rausch des
Sich-selbst-verletzen-Müssens. Mit dem Schmerz löste sich der Druck, mit dem
Schmerz brach die Schwere des Lebens in kristallene Flöckchen von Zuckerschaum
und Maisgrieß.
Die Flügel, dachte Franza, hast du dir ganz schön
geknickt, meine Süße, deine Flügel. Wirklich ein passender Name.
»Erzählen Sie von den anderen Mädchen«, sagte sie. »Die
anderen Mädchen, warum sind sie hier?«
Die Sozialarbeiterin blickte in ihre Tasse, lachte ein
kurzes unfrohes Lachen. »Das Übliche«, sagte sie dann. »Kaputte Familien,
Missbrauch, Drogen, was Sie wollen. Suchen Sie sich etwas aus. Ich habe alles
anzubieten. Aber ich nehme an, Sie kennen das. Da unsere Berufe sich ja
berühren, wie Sie so schön sagten.« Sie blickte hoch und wartete einen
Augenblick. Als sie fortfuhr, war der ironische Ton aus ihrer Stimme
verschwunden. »Häufig Alkoholikerfamilien. Häufig arbeitslos. Häufig unterste
Schicht. Keiner nimmt sie. Keiner will sie haben. Also schlagen sie zu.
Schlagen ihren Zorn aus sich heraus. Ihre Verzweiflung. Ich weiß, das
entschuldigt nichts. Gar nichts. Aber so ist das nun mal. Es trifft meistens
die Mädchen. Weil sie die Schwächsten sind. Sie kriegen alles ab. Das
Harmloseste sind Schläge. Viele müssen um ihr Leben fürchten, viele landen auf
der Straße, in der Prostitution. Die wenigsten schaffen den Absprung.«
Wieder schwieg sie, blickte aus dem Fenster. »Sie kiffen
ihre Töchter mit Pornos zu und dann holen sie sie zu sich
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