Das Regenwaldkomplott
Spaziergang zum Rio Parima zu machen. Er zog einen Pullover über das Hemd, trat ins Freie und blieb vor der Tür stehen, um sich an das Dunkel zu gewöhnen. Vom Yanomami-Dorf herüber wehten die Klänge von Baumtrommeln und zerhackten Gesängen; die Totenfeier mit der Verbrennung der Leiche hatte begonnen.
Er ging den Weg hinunter zum Fluß und wunderte sich über die Stille, die ihn umgab. Er hatte erwartet, die Stimmen der Dschungeltiere jenseits des Flusses zu hören, aber der Regenwald stand da wie eine riesige, jetzt schwarze Mauer, aus der kein Laut drang. Es war eine bedrückende Stille, nur der Rio Parima rauschte leise um die Steine in seinem Bett.
Am Ufer, auf einem Baumstamm, saß Luise, das Kinn auf ihr Knie gestützt, und starrte in den Fluß. Sie hob nur ein wenig den Kopf, als sie Toms Schritte hörte, und blieb sitzen.
»Sind Sie es, Tom?« fragte sie.
»Ja.«
»Können Sie auch nicht schlafen?«
»Ich bin kein bißchen müde. Dabei müßten wir umfallen vor Müdigkeit.« Er ging um den Baumstamm herum und setzte sich an ihre linke Seite. »Darf ich eine ganz blöde Frage stellen?«
»Bitte.«
»Haben Sie schon Heimweh?«
»Nein.« Sie blickte ihn an und strich die Haare aus ihrem Gesicht. »Ich wußte ja, was mich erwartet. Ich war ein Jahr am Kongo und ein Jahr auf Borneo. Und immer habe ich die erste Nacht allein im Freien gesessen. Am nächsten Morgen war ich keine Fremde mehr in diesem Land.«
»Dann störe ich jetzt.« Tom wollte aufstehen, aber ihre Hand hielt seinen Arm fest.
»Sie stören nicht, Tom. Ich habe sogar einen Augenblick gedacht: Jetzt kommt er vielleicht auch an den Fluß, er hat die gleiche innere Unruhe wie ich. Er muß hinaus in die Nacht, um durchatmen zu können. Es war nur ein Gedanke und – nun sind Sie wirklich da.«
»Die innere Unruhe, sagen Sie. Haben Sie viel in Deutschland zurückgelassen?«
»Was meinen Sie damit?«
»Einen lieben Menschen, der Ihnen jetzt fehlen wird. Einen Mann, den Sie lieben …«
»Es gibt keinen Mann, der mir fehlt.« Sie ließ Toms Arm los und stützte das Kinn wieder auf ihr Knie. Der Fluß glitzerte, als spiegelten sich die Sterne in ihm. »Wie kommen Sie überhaupt darauf?«
»Ich könnte mir denken, daß Ihnen die Männer zu Füßen liegen.«
»Das sind die letzten, die eine Chance hätten. Leider sind die meisten Männer so. Ich finde es läppisch, wenn sie sich wie kleine Kinder benehmen.«
»Wie muß ein Mann sein, der Ihr Interesse wecken könnte?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe noch keinen entdeckt.«
»Sie haben noch nie gespürt, was Liebe ist? Wie Liebe ist?«
»Tom, ich bin zweiunddreißig.« Das war eine klare Antwort. Ich bin ein Idiot, dachte Tom wütend. Natürlich hat man mit zweiunddreißig schon einige Erfahrungen, vor allem wenn man so aussieht wie sie. Aber es scheint nie der Richtige dabei gewesen zu sein, sonst säße sie nicht hier am Rio Parima und starrte in die Nacht.
»Verzeihung«, sagte er.
»Und Sie?«
»Ich bin siebenunddreißig und war verheiratet.«
»Geschieden?«
»Nein. Meine Frau kam bei einem Autounfall ums Leben – und ich hatte schuld daran. Ich bin bei Glatteis zu schnell gefahren. Auf der Autobahn nach Hamburg. Wir schleuderten über den Grünstreifen und überschlugen uns. Meine Frau war sofort tot. Genickbruch.«
»Verzeihung, das konnte ich nicht ahnen.«
»Es ist jetzt fünf Jahre her.«
»Und Sie trauern noch immer um Ihre Frau?«
»Die Zeit überdeckt alles. Das Leben geht weiter, heißt es so nüchtern. Natürlich ist es weitergegangen.«
»Mit anderen Frauen?«
»Auch das ist natürlich. Aber wie bei Ihnen: Es war keine dabei, die in meinem Leben eine Rolle spielen konnte, keine, mit der ich zusammen alt werden wollte. Ich lasse keine weinende Frau zurück.« Er streckte die Beine weit von sich und schüttelte den Kopf. »Wir sind zwei total verrückte Menschen: Wir sitzen nachts an einem Urwaldfluß und reden über unsere Vergangenheit. Das Morgen –, das Übermorgen und unsere Zukunft sollten uns beschäftigen. Luise –?«
»Tom –?«
»Ich mag Sie.«
»Ich Sie auch.«
»Dabei kennen wir uns erst zwei Tage.«
»Es ist schön, daß Sie auch auf der Mission arbeiten.«
»Ja, es ist wirklich schön.«
Er legte den Arm um ihre Schulter, wollte sie an sich ziehen und sie küssen. Aber da hob sie ihre Arme und schob ihn von sich weg. Auch ihr Kopf bog sich nach hinten, voller Abwehr.
»Bitte nicht«, sagte sie. »Tom, wir wollen doch Freunde sein.
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