Das Regenwaldkomplott
hin – die wirklichen Herrscher sind die Großgrundbesitzer und Fabrikanten. Sie geben Bilac die Anordnungen, und er führt sie aus. Das sadistische Zutodequälen allerdings ist sein Privatvergnügen.«
Thomas, der neben Luise saß, legte seine Hand beruhigend auf die ihre. Er sah, wie ihre Finger, die das Messer hielten, zu zittern begannen.
Pater Vincence erzählte kurz, was sich in den letzten Tagen abgespielt hatte. Er erzählte es so nüchtern, als lese er einen Zeitungsartikel vor. »Das ist die andere Seite dieses so friedlich aussehenden Fleckchens Erde«, sagte er am Ende. »Und die Goldgräberstädte werden Sie ja noch kennenlernen, Dr. Binder. Sie glauben nicht, zu was ein Mensch alles fähig ist. Das übersteigt jede verrückte Phantasie.«
»Ist der Leichnam von Ramos noch hier?« fragte Thomas.
»Nein. Bilac hat ihn mitgenommen nach Boa Vista. Ich nehme an, sie überführen ihn nach Manaus. Dort leben seine Frau und seine zwei Kinder.«
»Und der Yanomami?«
»Den haben sie wie ein Stück Aas an den Dorfrand geworfen. Er wird heute verbrannt. Die Indios werden eine große Feier daraus machen.«
»Kann man dabeisein? Ich möchte das gern sehen.«
Pater Ernesto wiegte den Kopf hin und her, bevor er antwortete.
»Man könnte, aber ich rate Ihnen davon ab. Für die Yanomami ist die Totenfeier etwas Heiliges, so wie bei uns das Hochamt. Sie würden den Geist des Toten beleidigen. Die Indios kennen Sie noch nicht, und sie sind sehr mißtrauisch einem Fremden gegenüber. Mich kennen sie seit zweiundzwanzig Jahren, ich bin ihr Freund, aber ich bleibe immer der weiße Mann aus einer anderen Welt. Sie haben gelernt, mit Hacke, Axt, Säge, Machete, Hammer, Nägeln und sogar einem Radio umzugehen, das ihnen ein Goldgräber gegen ein Mädchen eingetauscht hat, aber sie jagen immer noch mit Pfeil und Bogen, mit Speeren und Blasrohren. Später, wenn Sie länger hier sind, ist es vielleicht möglich, der Totenfeier zuzusehen. Es stirbt immer jemand, Doktor Binder.«
»Zunächst eines vorweg –« Thomas sah jeden am Tisch an. »Ich bin Thomas oder noch besser Tom. Das Dr. Binder möchte ich nicht mehr hören.«
»Einstimmig angenommen.« Pater Vincence Martinelli hob sein Glas mit dem Maracujawasser. »Wir sind eine große Familie. Nur so werden wir unsere Aufgaben lösen.«
Es wurde, wie überall in den Tropen, schnell dunkel. Eine kurze Dämmerung, und dann deckte die Nacht alles zu. Nur der Himmel glitzerte in einem Meer von Sternen; die Nachtkühle fiel herab. Die Hitze des Tages wurde ausgelöscht mit dem Untergang der Sonne; der Boden, der Wald, nichts hielt die Wärme fest.
Die Kühle der Nacht war Tom sehr angenehm. Er verspürte keine Müdigkeit und schon gar nicht den Drang, sich aufs Bett zu legen und zu schlafen. Morgen beginnt die Arbeit, dachte er. Was tue ich zuerst? Ich packe den Koffer mit den Instrumenten aus, das Mikroskop, die Schachteln mit den Einwegspritzen, die neuentwickelten Desinfektionslösungen und die Ampullen mit Herz- und Schmerzmitteln. Vier Kisten mit Infusionsflaschen und Blutkonserven waren unterwegs.
Das Gesundheitsministerium hatte es versprochen, aber wie immer, wenn Beamte die Sache in die Hand nahmen, durchliefen die vier Kisten einige Instanzen, Behörden, die sich für zuständig hielten, um als letzte Station bei der FUNAI in Boa Vista zu landen. Und dort saß Arlindo Beja, mittlerweile auch ergraut und nahe an der Pension, verbittert, daß er nie eine größere Karriere gemacht hatte, während viel Dümmere als er an ihm vorbeizogen, in die Ministerien aufstiegen oder Politiker wurden. Schlecht ging es ihm nicht – die Schmiergelder hatten ihn reich gemacht. Er hätte den Dienst quittieren können, um das Leben zu genießen, aber solange er als Chef der FUNAI von Boa Vista weitere Zuwendungen kassieren konnte, verließ er nicht seinen Bürosessel.
Die vier dringend gebrauchten Kisten würden also bei Arlindo Beja landen. Wann sie weitergereicht wurden nach Santo Antônio, lag ganz allein im Ermessen von Beja. Blutkonserven für die Indios … ja, ist man denn verrückt in Brasilia?! Ein neuer Arzt ist auf die Mission gekommen? Ein Deutscher? Den muß man sich ansehen. Auch er wird lernen, daß es keinen Weg um die FUNAI herum gibt. Wer hier bestimmt, ist Senhor Beja und nicht das ferne Brasilia. Laßt die Kisten kommen, Freunde! Erst muß man sehen, was für ein Typ dieser deutsche Arzt ist.
Bevor Tom sich schlafen legte, beschloß er, noch einen
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