Das Reich der Elben 01
zu drängen, endlich auf die Welt zu kommen. Möglicherweise liegt das daran, dass es Zwillinge sind, die sich einen Mutterleib teilen und sich instinktiv aneinander orientieren. Wenn der eine etwas wächst, will der andere nicht ins Hintertreffen geraten.«
»Ihr sprecht über sie, als wären sie bereits…«
»… erwachte Seelen? Lebende Wesen? Das sind sie, König Keandir. Ich habe ihre Lebenskraft gespürt. Sie ist ungewöhnlich stark. Und auch wenn sie noch hilflos und unmündig sein mögen – es ist alles angelegt, um sie zu würdigen Königssöhnen werden zu lassen.«
»Das freut mich zu hören.«
»Da war allerdings etwas…« Nathranwen stockte. Ihr Blick wirkte in sich gekehrt, und ihre glatte Stirn umwölkte sich leicht. Sie strich sich das seidige dunkle Haar zurück, sodass eines ihrer zierlichen spitzen Ohren sichtbar wurde.
»Was war da, Nathranwen?«
»Etwas, das ich nicht zu erklären vermag«, antwortete die Heilerin mit leiser Stimme. »Ein Schatten. Etwas Dunkles, das ich noch nie zuvor bei Ungeborenen wahrgenommen habe.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es hat sicher nichts zu bedeuten, denn ich habe es nur für einen kurzen Moment gespürt. Möglicherweise war es auch nur eine geistige Reflexion von Ruwens Schwermut.«
»Ja, das wird es gewesen sein«, stimmte Keandir zu.
Im dritten Monat nach der Wintersonnenwende – dem neunten nach der Ankunft der Elben im Zwischenland – kam Ruwen schließlich nieder und gebar zwei Elbensöhne. Der erste von ihnen erhielt den Namen Andir, der zweite wurde Magolas genannt.
Beide glichen sich wie ein Ei dem anderen – bis auf ein sternförmiges Feuermal, dass sich auf Magolas’ kahlem Kopf befand.
»Niemand wird diesen kleinen Makel bemerken, sobald Magolas erst einmal Haare gewachsen sind«, sagte Ruwen; ihr war aufgefallen, dass der Blick ihres Gemahls für wenige Augenblicke auf dieser Stelle ruhte und sich eine Falte auf der Stirn des Königs gebildet hatte.
Düstere Ahnungen beschlichen Keandir. Hatte dieses Feuermahl etwas mit jener Finsternis zu tun, die in ihm schlummerte und die offenbar auch in seine Söhne gefahren war, wenn er Nathranwens Andeutungen in dieser Hinsicht richtig interpretierte? Aber war das möglich? Er hatte diese
Kinder gezeugt, lange bevor er den Augenlosen Seher getroffen hatte und mit seiner bösartigen Finsternis in Kontakt geraten war.
Das elbische Ideal war Reinheit. Makellosigkeit. Vergeistigung. Aber möglicherweise waren diese alten Ideale ohnehin untauglich, um das Volk in die neue Zeit zu führen. Vielleicht, so kam es Keandir in den Sinn, war das, wovor er sich fürchtete, in Wahrheit ein Anlass zum Optimismus, da der Aufbau von Elbiana nicht Reinheit und Vergeistigung verlangte, sondern Tatkraft und die Bereitschaft, Makel in Kauf zu nehmen.
Ja, so musste es sein. Die Finsternis in seiner Seele hatte möglicherweise gar nichts mit dem Augenlosen Seher und dessen magischen Manipulationen zu tun, sondern einzig und allein mit Keandir selbst. Vielleicht war tatsächlich er selbst die Quelle dieser Dunkelheit. Dann war es auch begreiflich, warum sie auf seine Erben übergegangen war. Und vielleicht täte er gut daran, sie als Teil seines Selbst zu akzeptieren, anstatt sie als etwas Fremdes zu empfinden…
Eine warnende Stimme regte sich in ihm und wollte einfach nicht verstummen, so sehr er sich auch bemühte. Du redest dir etwas ein!, sagte ihm diese Stimme mit einer so kristallenen Klarheit, dass es schwer war, dagegen zu argumentieren. Das Böse ist in dir, Keandir – und du glaubst, dass du es als eine Kraftquelle benutzen kannst? Der Preis dafür wird hoch sein, so hoch, dass du es dir im Moment nicht einmal vorzustellen vermagst…
Nathranwen hatte die beiden Jungen ihrer Mutter an die Brust gelegt, deren anfängliche Schwermut verhaltener Freude gewichen war. »Andir und Magolas sind die ersten Elbiana- Geborenen unseres Volks«, sagte Keandir. »Und dass einer von ihnen einen kleinen Makel trägt, ist vielleicht ein Zeichen.«
»Ein Zeichen?«, fragte Ruwen erstaunt und leicht erschrocken.
»Ein Zeichen dafür, dass wir Elben unser Streben nach Perfektion aufgeben sollten, wenn wir hier, in Elbiana, bestehen wollen«, erklärte Keandir.
»Ich bin mir nicht sicher, ob alle das begreifen werden.«
»Nach und nach schon«, war Keandir überzeugt.
Später schlief Ruwen, um sich von den Anstrengungen der Geburt zu erholen. Keandir saß an der Wiege, in der seine beiden Söhne lagen. Aufmerksam schienen sie ihren
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