Das Reich der Elben 01
dem großen Strom erlebt hatten. An vielen Stellen ähnelte der Fluss in seiner Breite einem sehr lang gezogenen See. Zudem war die Fließgeschwindigkeit sehr langsam. Der Wind kam günstig aus Nordwest, und so konnte über lange Zeitspannen mit Seitenwind gesegelt werden.
Branagorn wurde ungeduldig; trotz der günstigen Reisebedingungen, schien ihm die »Morantor« einfach nicht schnell genug nach Norden voranzukommen, wo am Ostufer des großen Nur die üppige Vegetation des geheimnisvollen Waldreichs begann.
»Versprecht Euch nicht zu viel«, warnte Kapitän Isidorn.
»Wir haben keine sehr ausgedehnten Vorstöße in das Gebiet unternommen.«
»Es reicht mir, wenn Ihr die Blumenkolonie der Sinnlosen wiederfindet, Isidorn«, sagte Branagorn.
»Genau diese Kolonie wiederzufinden wird unmöglich sein«, erklärte Isidorn. »Der Wald ist zu dicht und unwegsam, werter Branagorn. Aber sehr wahrscheinlich gibt es mehrere Kolonien dieser Pflanze.«
»Wir werden sehen«, sagte Branagorn. »Lirandil ist bei uns, und es gibt, soweit man sich erzählt, keinen Ort, den er nicht zu finden vermag.«
Nach einer Fahrt von gut einer Woche erreichte die
»Morantor« schließlich jenes Gebiet, wo am Ostufer das Waldreich begann. Die Stelle, an der das Schiff beim letzen Mal geankert hatte, konnte natürlich nur ungefähr wiedergefunden werden, zumal sich der Fluss durch das Hochwasser stark verändert hatte. Die Uferbereiche des Urwaldes standen nun teilweise unter Wasser und ähnelten Mangrovenwäldern. Ein fauliger, modriger Geruch stieg aus dem dunklen Wasser, das zwischen den knorrigen Bäumen in zahllosen Ausbuchtungen und lagunenartigen Becken stand, die dem Fluss als Überlaufreservoire im Frühjahr dienten. Kapitän Isidorn hielt die »Morantor« fern von diesem Geäst, das wie erstarrtes schlangenartiges Getier wirkte.
Eine Gruppe von zwanzig Elbenkriegern drang in zwei Barkassen in die überschwemmten Ufergebiete vor, wo sie schließlich eine geeignete Stelle zum Anlegen fanden. Sie zogen die Boote an Land und brachen auf. Branagorn führte den Trupp an. An seiner Seite befanden sich neben Thamandor dem Waffenmeister auch Lirandil und Nathranwen. Die Heilerin hatte für diese Expedition die eng anliegenden Hosen und das Lederwams eines Kriegers angelegt, denn mit den fließenden Gewändern, die die grazile Elbin sonst zu tragen pflegte, hätte sie sich in den dornenreichen Sträuchern und dem dichten Unterholz verfangen.
Kapitän Isidorn nahm ebenfalls an dem Marsch durch den
Dschungel teil, auch wenn ihm als Seemann der Urwald nicht
geheuer war. Von allen Seiten drangen die Laute von Tieren auf sie ein, die sich aber nur ganz, ganz selten blicken ließen.
Isidorn und Lirandil gingen voran.
»Ihr müsst schon Nachsicht mit mir haben, werter Lirandil«, sagte der Kapitän. »Wärt Ihr bei unserer ersten Fahrt den Nur aufwärts dabei gewesen, wäre es für Euch sicherlich kein Problem, uns ohne Umweg ans Ziel zu führen. Aber für mich sieht der Wald überall gleich aus. Die Kunst des Fährtenlesens werde ich wohl nicht mehr erlernen, werter Lirandil.«
Der Fährtensucher lachte. »Sagt jetzt nicht, dass Ihr als
Seegeborener dazu zu alt seid, werter Kapitän Isidorn!«
»Das Alter eines Elben ist eine höchst individuelle
Angelegenheit, wie Ihr wisst, werter Lirandil.«
Der uralte Fährtensucher, der die Wälder von Athranor wie seinen Jagdbeutel gekannt hatte, nickte. »Das mag sein, werter Kapitän. Ich jedoch könnte mir durchaus vorstellen, eines Tages noch das Handwerk eines Kapitäns zu erlernen, wenn es das Schicksal von mir verlangen sollte.«
Isidorn wusste zunächst nicht, ob er von Lirandils Worten beeindruckt sein oder sich beleidigt fühlen sollte. Er entschied sich schließlich für Ersteres, denn sicherlich hatte der Fährtensucher nicht vorgehabt, ihn zu kränken.
Lirandil hatte einst in Athranor eine der letzten Kolonien der Sinnlosen gefunden. Plötzlich glaubte er Anzeichen dafür zu erkennen, dass diese Blume ganz in der Nähe war. Er zog seine Schlüsse aus winzigen Veränderungen im Verhalten der Fauna und schien auch etwas zu wittern. Er sog die Luft tief ein – eine Luft, die so schwer und von Duftstoffen gesättigt war, dass ein anderer Elb kaum eine einzige Nuance darin herausgerochen hätte.
»Ja, sie sind in der Nähe«, murmelte er. Er lauschte und beobachtete die Wald-Ouroungour, die sich von Baum zu Baum schwangen oder sich in riskanten Segelflugmanövern zu
Boden gleiten ließen. Geradezu
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