Das Reich der Elben 01
wie er in jenem Gewässer, das die Tagoräer das »Pereanische Meer« nannten, weiter in Richtung Süden und Osten vorgedrungen und schließlich sogar an der Küste des berüchtigten Rhagardan gelandet war.
»In den Sandlanden trafen wir auf Horden von Rhagar – und auf Ruinen von Küstenstützpunkten, die die Tagoräer aufgeben mussten, weil sie der Wildheit und der Grausamkeit dieses Volkes nichts entgegenzusetzen vermochten.«
»So seid Ihr ein erhebliches Risiko eingegangen«, stellte Keandir fest. Bewunderung schwang in seinen Worten mit – und auch ein bisschen Neid, denn ihm kam einmal mehr der Gedanke, dass ihm seine Pflichten als König seit der Gründung des Reichs keine Gelegenheiten gegeben hatten, dessen Grenzen zu überschreiten. Wohl war er einige Male innerhalb
Elbianas umhergezogen, um sich vom Fortschritt beim Aufbau des Reichs zu überzeugen. Aber diese Zeiten machten zusammengenommen noch nicht einmal ein ganzes Jahr aus. Ansonsten war er mehr oder minder an den Hof von Elbenhaven gebunden gewesen. Lange Zeit hatte er dies nicht als Fesselung empfunden, aber inzwischen ertappte er sich des Öfteren dabei, von Seereisen zu unbekannten Küsten zu träumen. Der Wunsch regte sich, die wundersamen Dinge, von denen ihm seine Kapitäne und Kundschafter berichteten, mit eigenen Augen und nicht nur in der Vorstellung betrachten zu können.
»Gewiss bin ich ein Risiko eingegangen«, gestand Ithrondyr ein, »aber gehört nicht auch Mut zu den elbischen Tugenden?« Keandir lächelte milde. »In den Erzählungen der Alten gewiss, doch hatte ich in letzter Zeit den Eindruck, dass gerade
diese Tugend stark in Vergessenheit geriet.«
»So wurde es vielleicht Zeit, dass ein Seegeborener zeigt, dass Mut ‘ auch heute noch eine Tugend der Elben ist«, erwiderte Ithrondyr.
»Berichtet mir von Eurer Begegnung mit den Rhagar«, forderte der König voller Ungeduld – einer eigentlich völlig unelbischen Unart, die jedoch immer häufiger vom ihm Besitz ergriff.
»Zunächst möchte ich noch bemerken, dass wir auf zahlreiche Boote und Schiffe der Rhagar trafen, als wir das Pereanische Meer Richtung Westen besegelten. Primitive Seevehikel waren das – nicht vergleichbar mit den Schiffen der Tagoräer. Manche wirkten so, als habe man versucht, die Seemanns- und Schiffsbaukunst der Tagoräer nachzuahmen. Allerdings mit einem kümmerlichen Ergebnis. Bisweilen benutzten sie sogar nur primitive Flöße aus zusammengeschnürten Baumstämmen oder rohrartigen Stauden. Die Küste der Sandlande ist nämlich durchaus
fruchtbar – allerdings erscheint es mir fraglich, ob in dem grünen Streifen Rhagardans bei unserem nächsten Besuch noch ein einziger Baum stehen wird, wenn erst all diese Barbaren über diese Landschaft hergefallen sind wie die Heuschrecken.«
»Wohin zieht es diese Auswanderer?«, fragte Keandir stirnrunzelnd.
»An die südlichen Ufer des Zwischenlands. Es ist vermutlich ihre eigene ungehemmte Vermehrung, die sie aus den Sandlanden vertreibt, denn die schmalen Streifen fruchtbaren Landes, die es dort gibt, reichen nur für eine kleine Bevölkerung.«
»Müssen wir uns Sorgen um unsere eigene Sicherheit machen?«, fragte Prinz Sandrilas.
»Vielleicht nicht heute, morgen oder in hundert Jahren. Aber nach einem halben Jahrtausend wird diese gierige Rasse den ganzen Kontinent an sich gerissen haben und an den Ufern des Nur stehen, über den Euer Sohn Andir gerade in Minasar eine Brücke spannt.«
Schon seit Monaten weilte Prinz Andir in der nieder- elbianitischen Stadt Minasar, um mit Hilfe von Reboldirs Zauber und der geistigen Unterstützung von fast zweihundert elbischen Schamanen, Magiern und Baumeistern eine Brücke materialisieren zu lassen, die Elbiana und Nuranien miteinander verbinden sollte. Flussabwärts in Richtung des Nur-Deltas gab es keine Möglichkeit mehr, eine Brücke zu errichten. Selbst die geballte geistige Kraft der Elben wäre nicht dazu in der Lage gewesen, eine Brücke zu materialisieren, die der enormen Strömung und dem Hunderte von Meilen ins Landesinnere spürbaren Tidenhub hätte standhalten können. Davon abgesehen war der Fluss auf dem Stück zwischen Minasar und der Flussmündung einfach viel zu breit. Niemand bedauerte dies mehr als Merandil, der neue
Herzog Nuraniens. Er residierte inzwischen in der an der Nur- Mündung gelegenen Burg Nurandor und hätte sich eine größere Nähe dieser in Zukunft wichtigsten Verbindung über den Nur gewünscht. Doch selbst ein Elbenherzog musste
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