Das Reich der Elben 01
der Prinz ausweichend.
Die Falte zwischen Thamandors Augen verstärkte sich und bildete eine Linie bis zum Haaransatz. Eine Ader pulsierte an seinem Hals. »Und diese Verbindung spürt Ihr nun?«
»Ja.« Der Prinz nickte. »Ich bin mir sicher, dass König Keandir hier ganz in der Nähe ist. Ein paar Schiffslängen entfernt – mehr nicht!«
Sandrilas trat an die Felswand. Auch sie war blutbesudelt; der Lebenssaft von Elben und geflügelten Bestien hatte dunkle Flecken auf dem kalten Stein hinterlassen. Sandrilas streckte die Hand aus und berührte das Gestein.
Thamandor wollte etwas sagen, aber Merandil, den man
»Merandil den Hornbläser« nannte, brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er trat neben den Elbenprinzen und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Auch die feinsten Sinne werden manchmal durch die Macht der eigenen Wünsche getäuscht, Prinz Sandrilas.«
»Das kann ich mir in diesem Fall nur schwer vorstellen, Merandil.«
Der Hornbläser entgegnete zunächst nichts darauf, sondern streckte seinerseits die Hand aus und berührte den Felsen. Erst dann sprach er wieder: »Hier ist nichts als kalter Stein, mein Prinz. Ihr solltet Euch nicht täuschen lassen. Versuchen wir stattdessen die Spur der Gefangenen aufzunehmen.«
»Ihr seid ein Optimist, wenn Ihr denkt, dass sie tatsächlich nur gefangen genommen wurden, Merandil.« Der einäugige Elbenprinz atmete tief durch und nickte schließlich. »Ich hoffe, dass wir sie finden. Den geflügelten Kreaturen traue ich es ohne Weiteres zu, dass sie einen Elben auch durch die Luft tragen und auf diese Weise entführen können.«
»Dann hätten wir einen langen Weg vor uns«, mischte sich
Thamandor ein.
Prinz Sandrilas verzog das Gesicht. »Ihr, Waffenmeister, könnt es doch nur nicht erwarten, die Errungenschaften Eurer Erfindungsgabe auszuprobieren!«
Thamandor antwortete nicht darauf, deutete aber eine leichte
Verbeugung an. Er fühlte sich durchschaut…
Die Nacht brach herein. Dichte Nebelbänke lagen vor der Küste, und die Sicht war so schlecht, dass man selbst Schiffe, die ganz in der Nähe ankerten, nur noch als geisterhafte Schemen ausmachen konnte.
»Tharnawn« – der Name des Schiffes erschien der schwangeren Ruwen in diesem Augenblick wie blanker Hohn. Schweißgebadet war sie aus dem Schlaf erwacht; ein Albtraum hatte sie heimgesucht und nicht wieder zur Ruhe kommen lassen. Nun stand sie an der Reling des Flaggschiffs, dessen Name ein altes elbisches Wort für »Hoffnung« war, und starrte gedankenverloren hinüber zu den schroffen Felsen.
Ein Wächter patrouillierte in voller Bewaffnung über das Deck, und einige andere Elbenkrieger saßen bei einem Brettspiel auf den Planken, aber ihre Gespräche waren sehr gedämpft, und es lachte auch niemand.
Das Herz schlug Ruwen noch immer bis in die Kehle. Zu gegenwärtig waren die Eindrücke aus ihrem Albtraum. Die schrecklichen Bilder hatten mit so eindringlicher Klarheit vor ihrem inneren Auge gestanden, dass sie nicht daran glauben konnte, dass es sich nur um einen gewöhnlichen Traum gehandelt hatte.
»Ihr seid nicht unter Deck, um zu ruhen?«, mischte sich eine
Stimme in das Plätschern der leichten Wellen, die gegen die
Wandungen des Schiffs schlugen. Die Stimme gehörte zwar einer Frau, war dafür allerdings bemerkenswert tief.
»Nathranwen!«, entfuhr es Ruwen, als sie sich umdrehte und in das Gesicht der Heilerin blickte.
»Ihr könnt keinen Schlaf finden?«
»Wundert Euch das? Keandir ist bis jetzt nicht zurückgekehrt, und niemand weiß, was ihm und seinen Begleitern zugestoßen ist.«
»Macht Euch keine Sorgen. Prinz Sandrilas ist auf der Suche nach ihm.«
»Auch er ist überfällig und hätte längst zurückkehren sollen. Ihr wisst von den geflügelten Nachtkreaturen, die dieses verfluchte, von der Zeit und den Göttern vergessene Land beherrschen. Ihr zänkisches Gekreische dringt meilenweit an das feine Ohr einer Elbin – und diese Laute lassen mich nichts Gutes erahnen.«
Ein mildes, verständnisvolles Lächeln zeigte sich auf Nathranwens Gesicht. Aber dieses Lächeln wirkte angespannt. Sie wollte Ruwen damit beruhigen, wie die Königin erkannte.
»Ich hätte Kean davon abhalten sollen, sich im Landesinneren umzusehen«, sagte sie. »Warum hat er nicht auf seine Kundschafter vertraut, sondern musste sich unbedingt selbst ins Land dieser Schattenkreaturen begeben?«
»Ich bin überzeugt, dass er wohlbehalten zu Euch zurückkehren wird, Ruwen.«
»Was macht Euch so sicher? Habt Ihr die
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