Das Reich der Katzen (German Edition)
Aber das Licht
beschäftigte sie. Ebenso der gelöste Ausdruck auf Rouvens Gesicht. Er hat
seinen Frieden gefunden, dachte sie erleichtert. Fragt sich nur, ob er es in
einer besseren Welt hatte. Sie konnte den Gedanken nicht aus ihrem Kopf verbannen,
dass der tote Freund jetzt eine andere Ebene, eine höhere, erreicht hatte. So
stellte sie es sich zumindest vor. Als sie eine kleine Pause einlegten, um Atem
zu schöpfen, hielt es Onisha nicht mehr aus und sie trat dicht an Valentin
heran. »Ich muss dich etwas fragen«, flüsterte sie ihm zu.
Der Kater sah sie an. »Und was gibt es so Wichtiges?«
»Ich habe eben etwas gesehen, aber ich weiß nicht, ob ich es mir
eingebildet habe oder ob es tatsächlich da war.« Sie kam sich selten blöd vor.
»Was glaubst du denn gesehen zu haben?«
Onisha schilderte es ihm in knappen Worten. Viel gab es dazu auch
nicht zu sagen.
Valentin keuchte. »Das war das Anch.«
»Wie bitte?« Onisha konnte mit dem Begriff nichts anfangen. Ben
drängte sich dicht an sie heran.
Onisha erzählte auch ihm von der Erscheinung.
»Das Anch ist die Lebenshieroglyphe.« Man sah Valentin deutlich
an, dass er das Gehörte erst verarbeiten musste.
Ben warf einen Blick auf den Umhang, der Rouven einhüllte.
»Rouven sieht aber alles andere als lebendig aus.«
Valentins Gesicht bewölkte sich. »Es gibt Dinge zwischen Himmel
und Erde, von denen du nichts weißt und nicht einmal etwas ahnst.«
Wenn Onisha gedacht hatte, Ben würde Valentin etwas Heftiges
erwidern, sah sie sich getäuscht. Der rote Kater blieb erstaunlich ruhig. Er
verharrte eine Weile und nickte dann. »Du hast Recht. Und vielleicht gibt uns
das ja ein wenig Hoffnung, dass es Rouven jetzt besser geht.« Er drehte sich
herum. »Aber lasst uns unser Vorhaben zu Ende bringen! «
Auf dem Friedhof wartete die nächste makabre Überraschung auf
sie: Am Rande der alten Gräber war ein frisches ausgehoben. Haargenau in
Rouvens Größe. »Diese Bestie!«, zischte Ben. »Ich bringe sie um!« Sie wussten
alle, dass er Lavina meinte, erwiderten aber nichts. In stummem Gedenken ließen
sie den kleinen Körper in das Erdloch gleiten, blieben einige Minuten
schweigend um das Grab herum versammelt sitzen und blickten hinab. Jeder von
ihnen gab Rouven noch einen letzten Gruß mit ins Jenseits und hoffte, dass die
Seele des Katers nun keine Schmerzen mehr litt und ewigen Frieden gefunden
hatte.
Onisha spürte etwas Dunkles, Bedrohliches in sich aufsteigen. Und
plötzlich sah sie Bilder vor sich. Eine schöne Frau in schwarze Kleidung
gehüllt, die einen kleinen Katzenkörper an einen Pfahl schlug und dabei
hässlich lachte.
Onisha keuchte.
Eine Welle der Übelkeit schwappte über sie hinweg. Sie vermochte
sich nur mit Mühe auf den Pfoten zu halten. Beinahe wäre sie in das offene Grab
und somit auf Rouvens leblosen Körper gestürzt. In letzter Sekunde konnte sie
sich wieder fangen und trat hastig einige Schritte von dem Grab zurück.
Fleur und Ben waren sofort an ihrer Seite. »Was ist mit dir?«,
fragten sie gleichzeitig.
»Ich habe es gesehen. Ich habe gesehen, wie sie Rouven an die
Latte ...« Onishas Stimme brach. Sie sah Fleur an. »Du nicht?« Onisha hatte
sich mittlerweile daran gewöhnt, dass sie alles zur selben Zeit empfanden.
Doch dieses Mal schüttelte Fleur den Kopf. »Nein«, sagte sie
leise. »Ich habe nichts gesehen.« Sie hob den Kopf und in ihren Augen war ein
entschlossener Ausdruck. »Aber ich werde dafür sorgen, dass Rouven nicht
umsonst gestorben ist. Lavina will die uneingeschränkte Macht, aber die wird
sie nicht bekommen!«
Ihre Stimme hatte etwas Herrisches. Etwas Befehlsgewohntes.
Onisha wusste, dass sie träumte. Aber die Gestalt des Falkengottes
war so realistisch, dass sie für einen flüchtigen Augenblick dachte, sie wäre
wach. Verzweifelt versuchte sie sich aus der Umklammerung der Traumwelt zu
lösen. Aber es gelang ihr nicht.
Der muskulöse Mann mit dem Vogelgesicht wandte sich ihr zu. Sah
sie mit starrem Raubvogelblick an. Neben ihm wurde ein weiterer Schatten
sichtbar und nahm immer mehr an Gestalt an. Es war die perfekte Symbiose eines
Frauen- und Schlangenkörpers.
»Uto«, flüsterte Onisha. »Die Schlangengöttin.« Sie bäumte sich
auf, um dem Trugbild zu entgehen.
Doch Uto lachte dunkel. »Sucht den Thron der BASTET und die Tore
des Himmels werden sich öffnen!« Der Blick ihrer schräg stehenden Augen ließ
Onisha nicht los. Übte eine hypnotische Anziehungskraft auf sie aus.
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