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Das Reich der Schatten

Das Reich der Schatten

Titel: Das Reich der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aileen P. Roberts
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würde Ragnar sie so zumindest einmal mit anderen Augen sehen. Sie schlüpfte in ihre Stiefel, und nach einem letzten, halbwegs zufriedenstellenden Blick in den Spiegel eilte sie nach draußen.
    Sowohl in der Höhle als auch auf dem Vorplatz herrschte ausgelassene Stimmung. Bisher hatte Lena die Tuavinn als eher würdevoll und ernsthaft kennengelernt, doch heute wurde gelacht und getanzt und dem Beerenwein ohne Hemmungen zugesprochen, obwohl niemand betrunken wirkte. Allmählich verstand sie, wie wichtig den Tuavinn das Neugeborene war, und vielleicht zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie ernst die Lage für Elvancor wirklich war: Das Volk der Tuavinn war womöglich vom Aussterben bedroht, während die Rodhakan erstarkten, immer mehr Opfer forderten und die Menschen sich dem natürlichen Rhythmus des Werdens und Vergehens entzogen. In diesem Augenblick begriff Lena auch, dass sie sich verändert hatte. Hätte ihr früher jemand gesagt, dass sie sich irgendwann mit derartigen Gedanken herumschlagen würde, sie wäre in schallendes Gelächter ausgebrochen.
    Sie schüttelte den Kopf und ging langsam auf die feiernden Tuavinn zu, um sich etwas zu essen zu holen. Unglücklicherweise stieß sie einen Holzteller vom Tisch und bückte sich rasch, um die faustgroßen Früchte aufzuheben.
    »Ich helfe dir!« Lena sah auf und erkannte prompt Aravyn, die sich neben ihr niederließ und die Früchte auflas. »Sonst bin ich es immer, der so etwas passiert«, sagte sie mit einem Lachen. »Erst vor wenigen Augenblicken habe ich meinem Onkel versehentlich Beerenwein über die Hose geschüttet.«
    Lena blickte Aravyn erstaunt an. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass dieser jungen Tuavinn überhaupt irgendetwas versehentlich passierte. Auch wenn es unhöflich war, erwiderte sie nichts. Sie hatte einen Kloß im Hals, sah in Aravyn nur die Frau, in die sich der Mann, der ihr selbst so viel bedeutete, verliebt hatte.
    Aravyn erhob sich, stellte den Teller wieder auf den Tisch und musterte Lena, wobei ihr Blick auffallend über ihr Kleid streifte. »Du siehst beneidenswert schön aus in diesem Kleid.«
    Lena konnte keinerlei Spott in ihrer Stimme hören. Aravyn hatte dies ernst gemeint.
    »Danke«, stammelte sie und strich sich verlegen die Haare zurück. »Danke, dass … du mir geholfen hast.«
    »Ist doch selbstverständlich.« Abermals überzog ein blitzendes Lächeln Aravyns Gesicht.
    »Aravyn!«, hörte Lena Targon rufen. Der große Tuavinn bedeutete seiner Nichte, zu ihm zu kommen. Diese jedoch fasste Lena kurz an den Schultern und sah ihr in die Augen. »Schade, dass wir uns während der letzten Tage kaum unterhalten konnten. Ich würde dich gerne näher kennenlernen.«
    Sie nickte Lena noch einmal kurz zu, dann eilte sie zu ihrem Onkel. Völlig verblüfft schaute Lena ihr nach. Wäre sie nicht in denselben Mann verliebt gewesen, sie hätte diese Tuavinn durchaus mögen können.
    Da Lena im Moment leider weder Eryn noch Amelia oder Maredd ausmachen konnte und Ragnar vermutlich schlief, schnappte sie sich kurzerhand einen Krug voll Wein und stieg den Berg hinauf. Aus der Ferne drang Musik zu ihr, fröhlich und ausgelassen. Sie glaubte Flöten und Trommeln herauszuhören, vielleicht waren es aber auch andere Musikinstrumente. Es fiel ihr nicht schwer, den Weg zurück zur Quelle zu finden. Schon bald stand sie vor dem kleinen Teich und sah zu dem Schlehdorn hinüber. Nichts rührte sich, keine kleinen Schlehengeister, keine Schmetterlinge oder sonstige Wesen.
    Am Rande des Teiches ließ sie sich nieder, stellte den Krug neben sich und schnürte ihre Stiefel auf.
    »In der Vision hatte ich schließlich auch keine Schuhe an«, sprach sie zu sich selbst. Ob sie nun alles richtig machte, wusste Lena nicht, aber sie beobachtete den Busch, während sie ihre nackten Füße im Wasser baumeln ließ. Sie erkannte sehr wohl, dass ein dicker Ast in dem Busch fehlte, jener, den Etron zu ihrem Bogen machen wollte.
    »Also, was soll ich jetzt tun?«, fragte sie zu dem Schlehdorn gewandt. »Wenn mich meine Freunde zu Hause sehen könnten, wie ich mit einem Strauch rede, würden sie mich einliefern lassen«, murmelte sie, doch dann zuckte sie die Achseln und erhob sich. »Also, liebe Schlehengeister, hier ist mein Geschenk an euch – Beerenwein. Ich hoffe, den mögt ihr.« Langsam schritt sie um den Teich herum, dreimal, so wie sie es in ihrem Traum gesehen hatte. Dann stellte sie den Krug vor den hohen Strauch, und ihre Finger fuhren über die

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