Das Reich der Schatten
schließlich stapfte er zu den anderen Kriegern zurück, allerdings nicht ohne Lena noch einmal zuzuzwinkern.
»Was ist mein Bruder nur für ein Großmaul geworden«, beschwerte sich Kian. Kurz sah er ihm hinterher, dann jedoch wandte er sich wieder an Lena. »Ich habe dir doch gesagt, dass sie beabsichtigen, dich in Erborg vor dem Volk sprechen zu lassen«, sagte er leise, und Ragnar richtete sich alarmiert auf. »Allerdings konnte ich nur Bruchteile des geheimen Gespräches belauschen. Wer weiß, was sie sonst noch beschlossen haben.«
»Was meinst du damit?« Ragnar schnellte vor und fasste Kian am Arm. »Lena, was redet er da?«
»Die Fürsten haben bereits vorher entschieden, mich mit nach Erborg zu nehmen«, schloss Lena, nachdem sie Ragnar von jenem Gespräch berichtet hatte, das Kian belauscht hatte.
Ragnar kniff die Augen zusammen. »Das gefällt mir nicht! Ich dachte, es wäre das Ergebnis der Unterredung hier. Wenn sie es vorher bereits ersonnen haben, verheißt das nichts Gutes!«
»Mir gefällt es auch nicht«, pflichtete ihm Kian bei. »Doch andererseits, würden die Fürsten zurückkehren und ihrem Volk plötzlich erzählen, die Rodhakan kämen nicht von jenseits der Schwelle, würden die Menschen ihnen vermutlich kaum Glauben schenken. Aber«, Kian senkte den Kopf, »ich will ehrlich mit euch sein. Es könnte sich auch um eine Falle handeln!«
»Natürlich ist es eine!«, brauste Ragnar auf.
»Ich gehe dennoch!«
»Lena! Bist du von Sinnen?«, stieß Ragnar hervor.
»Es ist der einzige Weg. Wir können die Menschen nicht einfach so bei einer kurzen Zusammenkunft am Lagerfeuer überzeugen. Nein, Ragnar«, sie schüttelte den Kopf, und während sie weitersprach, erkannte sie, wie sehr ihn ihre Entscheidung quälte, »ich werde dorthin gehen.«
Ragnar seufzte. »Wie ich schon sagte, ich begleite dich!«
»Ich ebenfalls!« Kians Stimme klang nicht weniger entschlossen als Ragnars.
Ein Lächeln – wenn auch wegen des Gesagten ein wenig zögerlich – erhellte Ragnars Gesicht, als Aravyn näher kam. Er legte den Arm um sie, küsste sie, und in Lenas Innerem verkrampfte sich etwas.
Sie stieß Kian kurz in die Seite, als sie bemerkte, mit welch unverhohlener Faszination er die junge Frau musterte.
»Ich grüße dich, mein Name ist Aravyn«, stellte sich die Tuavinn vor.
»Kian aus Ta… Talad.« Er verbeugte sich ungelenk, und Lena verdrehte die Augen. Nun hatte Aravyn auch noch Kian verzaubert – hervorragend.
»Aus Talad!«, freute sich Aravyn. »Meine Mutter hat mir davon erzählt, als ich klein war.«
»Ach, wirklich?«
Die beiden fingen an, sich angeregt zu unterhalten und Geschichten über Talad auszutauschen. Es machte Lena rasend, wie selbstverständlich Aravyn das Herz eines jeden gewann. Beinahe schien es ihr, als hätten sich Kian und Aravyn nicht gerade erst kennengelernt, sondern seien seit Jahren Freunde. Ihre heitere Art, ihr strahlendes Lachen, ohne gekünstelt oder aufgesetzt zu wirken, zog offenbar jeden in ihren Bann – ganz besonders Männer.
Nach einer Weile kam Targon angestapft. Wie selbstverständlich unterbrach er das Gespräch seiner Nichte mit Kian, ohne den jungen Kelten überhaupt zu beachten.
»Wir reiten zurück zu unseren Leuten.« Flüchtig nickte er Ragnar zu. »Du sollst ebenfalls mitkommen.«
»Ich begleite Lena«, widersprach er jedoch.
»Soll mir ebenfalls recht sein.« Targon schien Ragnars Entscheidung nicht einmal ungelegen zu kommen.
Aravyn jedoch zeigte sich weniger begeistert. »Bist du sicher? Tuavinn sind in den Fürstenstädten keine gern gesehenen Gäste. Dir wird so manche Feindseligkeit entgegenschlagen. Lass mich euch begleiten.«
»Keinesfalls!«, schritt Targon da ein.
»Onkel! Ich kann nicht immer in deinem Schatten gehen.«
Mit einem grimmigen Gesicht starrte sie Targon an. Dessen Gesichtszüge verhärteten sich, und obwohl Lena nicht auf Aravyns Begleitung erpicht war, so gefiel es ihr doch, dass sie sich gegen ihren herrischen Onkel auflehnte.
»Aravyn, bitte!« Ragnar drehte sie an den Schultern zu sich. »Wie du schon sagtest, es ist gefährlich.«
»Aber ich …«
»Nein!« Er legte ihr einen Finger auf den Mund und schüttelte den Kopf.
In diesem Moment rief Maredd alle zu sich. »Bist du bereit?«, flüsterte er Lena zu.
»Ja, bin ich.«
»Wir nehmen das Angebot der Fürsten von Erborg an«, verkündete Maredd, und sein Blick schweifte über die versammelten Fürsten. »Lena soll mit Euch gehen und sich den
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