Das Reich der Sieben Städte
Geschichten, mit denen man Kinder erschreckt. Ich könnte welche schreiben. Ich brauche noch nicht einmal Fantasie, ich brauche nur das zu verwenden, was ich rund um mich herum sehen kann. Heboric, mein Oger mit der Eber-Tätowierung. Baudin mit einer roten Narbe, wo früher einmal ein Ohr gewesen ist, und mit Haaren, die verfilzt und tierisch aus seiner runzligen Haut wachsen. Diese beiden sind wirklich ein Paar, das Entsetzen verbreiten kann.
Der alte Mann erreichte sie und kniete sich hin, um seine Arme durch die Tragschlaufen seines Rucksacks zu schieben. »Außergewöhnlich«, murmelte er.
Baudin grunzte erneut. »Aber können wir sie umgehen, Heboric? Ich habe keine Lust, durch sie durchzuwaten.«
»Oh, ja, natürlich, das ist ganz einfach. Sie sind nur auf der Wanderschaft zur nächsten Senke.«
Felisin schnaubte. »Und das findest du außergewöhnlich?«
»Genau, das tue ich«, erklärte er, während er wartete, bis Baudin die Tragriemen seines Rucksacks festgezurrt hatte. »In der kommenden Nacht werden sie zum nächsten Flecken mit tiefem Sand marschieren. Verstehst du? Genau wie wir bewegen sie sich in Richtung Westen, und genau wie wir werden sie das Meer erreichen.«
»Und was dann?«, fragte Baudin. »Schwimmen sie dann?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber wahrscheinlich drehen sie einfach um und marschieren in Richtung Osten, zur anderen Küste.«
Baudin schulterte seinen eigenen Rucksack und zurrte ihn fest. »Wie ein Käfer, der am Rand eines Bechers entlangkrabbelt«, sagte er dann.
Felisin warf ihm einen schnellen Blick zu. Schlagartig erinnerte sie sich an ihren letzten Abend mit Beneth. Er hatte in Bulas Schänke an seinem Tisch gesessen und Fliegen zugesehen, die am Rand seines Kruges entlanggetrippelt waren. Es war eine der wenigen Erinnerungen, die sie heraufbeschwören konnte. Beneth, mein Geliebter, der Fliegenkönig, der Schädelmulde umkreist. Baudin hat ihn zurückgelassen, damit er verrottet; deshalb kann er mir nicht in die Augen sehen. Schläger sind nie besonders gut im Lügen. Er wird dafür bezahlen ... eines Tages wird er dafür bezahlen ...
»Folgt mir«, sagte Heboric und setzte sich in Bewegung. Seine Füße versanken im Sand, sodass es aussah, als liefe er auf Stümpfen, passend zu denen am Ende seiner Arme. Er begann immer frisch und munter, zeigte eine Energie, die Felisin aufgesetzt vorkam; es schien, als würde er versuchen, die Tatsache zu widerlegen, dass er alt war, dass er der Schwächste von ihnen war. Im letzten Drittel der Nacht pflegte er dann eine Viertelmeile hinter ihnen zu sein, den Kopf gesenkt, schlurfend und unter dem Gewicht des Rucksacks schwankend, gegen den er beinahe wie ein Zwerg wirkte.
Baudin schien eine Landkarte in seinem Kopf zu haben. Bisher waren alle Informationen überaus exakt und zutreffend gewesen. Auch wenn die Wüste auf den ersten Blick bar allen Lebens schien, so konnte man doch Wasser finden. Von Quellen gespeiste Teiche in anstehendem Felsgestein, Schlammpfützen, umgeben von den Spuren von Tieren, die sie niemals zu Gesicht bekamen, wo man eine Armlänge – oder manchmal auch weniger – tief graben musste, um das lebensspendende Wasser zu finden.
Sie hatten genug Nahrungsmittel für zwölf Tage mitgenommen, also für zwei mehr, als die Reise zur Küste dauern sollte. Das gab ihnen nicht besonders viel Spielraum, doch es musste reichen. Trotz allem wurden sie schwächer. Jede Nacht war die Entfernung, die sie zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang zurücklegten, ein bisschen kürzer als in der Nacht zuvor. Die Monate in Schädelmulde, die anstrengende Arbeit in den unbelüfteten Schächten hatten ihre Reserven schon zuvor angegriffen.
Sie wussten es alle, aber niemand sprach es aus. Die Zeit saß ihnen jetzt im Nacken, die geduldigste Dienerin des Vermummten, und jede Nacht blieben sie ein bisschen weiter hinter ihrer Vorgabe zurück, näherten sie sich mehr jenem Ort, an dem der Wille weiterzuleben vor dem vollkommenen Frieden kapitulierte. Es liegt ein süßes Versprechen in der Vorstellung, einfach aufzugeben – aber das zu begreifen, dazu bedarf es einer Reise. Einer Reise des Geistes. Man kann nicht einfach zum Tor des Vermummten gehen – man steht plötzlich vor ihm, wenn der Nebel sich verzieht.
»Woran denkst du, Mädchen?«, fragte Heboric. Sie hatten zwei Reihen hügelähnlicher Erhebungen überquert und waren jetzt am Rand einer ausgedörrten Trockenpfanne angekommen. Die Sterne über ihnen glitzerten wie
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