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Das Reich der Sieben Städte

Das Reich der Sieben Städte

Titel: Das Reich der Sieben Städte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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vermute, du hast Wertgegenstände mitgehen lassen. Deshalb haben sie dir die Hände abgehackt und dich anschließend auf den Abfallhaufen hinter dem Tempel geworfen. Das genügt ganz sicher, um sich danach die Geschichtsschreibung als neuen Beruf auszusuchen.«
    »Es ist Zeit zu gehen«, sagte Baudin.
    »Aber er hat meine Frage noch nicht beantwortet...«
    »Ich würde sagen, er hat, Mädchen. Und jetzt halt die Klappe. Heute wird nicht der alte Mann den zweiten Rucksack tragen, sondern du.«
    »Ein vernünftiger Vorschlag, aber nein, danke!«
    Baudin schoss das Blut ins Gesicht, und er stand auf.
    »Hört schon auf«, sagte Heboric. Er ging zu den Rucksäcken hinüber und schlang sich die Riemen um die Arme. Im herrschenden Zwielicht sah Felisin zum ersten Mal den Stumpf, mit dem er den Jadefinger berührt hatte. Er war geschwollen und rot, die faltige Haut gespannt. Tätowierungen sammelten sich am Rande des Handgelenks, ließen es beinahe schwarz erscheinen. Jetzt erst bemerkte sie, dass sämtliche Zeichnungen auf seinem Körper kräftiger geworden waren, dass sie zügellos wie Weinreben gewachsen waren.
    »Was ist denn mit dir passiert?«
    Er schaute an sich hinunter. »Ich wollte, ich wüsste es.«
    »Du hast dir an dieser Statue das Handgelenk verbrannt.«
    »Nicht verbrannt«, sagte der alte Mann. »Obwohl es schmerzt wie der Kuss des Vermummten. Kann vergraben im Otataral-Sand Magie gedeihen? Kann Otataral Magie hervorbringen? Auf keine von diesen Fragen habe ich eine Antwort, Schätzchen.«
    »Nun«, murmelte sie, »es war auch eine ziemlich dumme Idee – ich meine, das verdammte Ding zu berühren. Geschieht dir recht.«
    Baudin setzte sich ohne jede weitere Bemerkung in Bewegung. Felisin beachtete Heboric nicht weiter, sondern folgte dem Schläger. »Kommen wir heute Nacht an ein Wasserloch?«, fragte sie.
    Der große Mann gab ein Grunzen von sich. »Diese Frage hättest du dir stellen sollen, bevor du mehr getrunken hast, als dir zusteht.«
    »Nun, ich hab's halt nicht getan. Also, gibt es ein Wasserloch?«
    »Wir haben gestern eine halbe Nacht verloren.«
    »Und das bedeutet?«
    »Das bedeutet, es gibt kein Wasser bis morgen Nacht.« Er drehte sich zu ihr um, während er weiter dahinschritt. »Du wirst dir noch wünschen, du hättest dir den Schluck aufgehoben.«
    Sie antwortete nicht. Sie hatte nicht die Absicht, ehrenhaft zu sein, wenn sie das nächste Mal etwas trinken konnte. Ehrenhaft zu sein ist eine Eigenschaft für Narren. Ehrenhaft zu sein ist ein tödlicher Fehler. Ich werde nicht wegen einer Ehrensache sterben, Baudin. Heboric wird wahrscheinlich sowieso draufgehen. Ihm das Wasser zu geben wäre Verschwendung.
    Der Priester stapfte mühsam hinter ihnen her, das Geräusch seiner Schritte wurde schwächer, als er weiter und weiter zurückfiel, während Stunde um Stunde verstrich. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass am Ende sie und Baudin – nur sie beide – an der Westküste dieser elenden Insel stehen und hinaus aufs Meer blicken würden. Die Schwachen bleiben immer auf der Strecke. Das war das erste Gesetz von Schädelmulde gewesen; tatsächlich war es die erste Lektion, die sie gelernt hatte – noch in den Straßen von Unta, auf dem Weg zu den Sklavenschiffen.
    Damals hatte sie in ihrer Naivität den Mord an Lady Gaesen als eine entsetzliche Tat betrachtet, hatte Baudin dafür im Stillen verflucht. Wenn er heute das Gleiche täte – Heboric aus seinem Elend erlösen –, würde sie noch nicht einmal blinzeln. Dies ist eine ziemlich lange Reise. Wo wird sie wohl enden? Sie dachte an den Fluss aus Blut, und dieser Gedanke wärmte sie.
     
    Wie Baudin vorausgesagt hatte, fanden sie bis zum Ende dieses Nachtmarschs keine Wasserstelle. Als Lagerplatz wählte er eine sandige Stelle im Schutz einiger Kalkstein-Vorsprünge, die der Wind zu bizarren Skulpturen geformt hatte. Gebleichte menschliche Knochen lagen an der Stelle herum, doch Baudin warf sie einfach beiseite und begann, die Zelte aufzuschlagen.
    Felisin setzte sich hin, den Rücken an einen Felsen gelehnt, und schaute zurück zum fernen Ende der flachen Ebene, die sie gerade durchquert hatten; dort musste Heboric irgendwann auftauchen. Er war noch nie zuvor so weit zurückgeblieben – die Ebene war mehr als eine Meile breit –, und als die Morgendämmerung den Horizont vor ihr mit einem rötlichen Schimmer übergoss, begann sie sich zu fragen, ob nicht irgendwo da draußen sein lebloser Körper lag.
    Baudin kauerte sich neben ihr

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