Das Reich in der Tiefe
Nicht allein der König und der Kronprinz waren anwesend, sondern die gesamte königliche Familie und ein Teil des Hofstaates hatten sich eingefunden, um an der Sensation teilzunehmen, den Eingeborenen der kalten Höhle zu betrachten.
Erichsen verbeugte sich, und der alte König winkte mit einer müden Handbewegung, näher zu kommen. Statt des Herrschers sprach aber Ayor Tupac, der Kronprinz, auch schon ein Mann von 50 Jahren, schlank und hochgewachsen, mit kühn geschwungener Nase im schmalen Gesicht. Rasch und herrisch stellte er Fragen, so daß Klaus große Mühe hatte, zu verstehen:
„Du bist also der Fischer aus der Höhle, die unsere Expedition entdeckt hat. Wovon lebt ihr, wie könnt ihr euch gegen die Kälte schützen?“
Der alte König drehte den Kopf zur Seite und hielt die hohle Hand ans rechte Ohr, als Klaus sehr langsam antwortete: „Ich bin kein Fischer und stamme nicht von jener kleinen Insel, sondern aus einem anderen Teil dessen, was eure Gelehrten die obere Höhle, wir die Erdwelt nennen. Sie ist auch eure Urheimat. Bisher habe ich es meinen Lehrern nicht gesagt, weil ich diese Eröffnung für so wichtig hielt, daß ich sie nur vor Eurer Majestät oder vor einer Gelehrtenkommission des Reiches von Cheti abgeben wollte.“
Diese Rede schlug wie eine Bombe ein, Minuten vergingen, bis der Kronprinz Antwort gab: „Was bist du denn, wenn du kein Fischer sein willst?“
„Ich würde hier zu den Amautas, zur Kaste der Wissenden, der Technik gehören.“
„Was habt ihr denn für technische Errungenschaften?“
„Zum Beispiel Flugzeuge, die rascher fliegen als der Schall, Schiffe, die mit Tausenden von Menschen an Bord über gewaltige Meeresstrecken fahren. Großraketen, welche 500 Kilometer in die Höhe und 10 000 Kilometer in die Ferne fliegen. Ferner …“
Der Kronprinz winkte ab und stellte die Frage: „Wieviel Einwohner hat das, was ihr die Höhle Erdwelt nennt?“
„Ich weiß die genaue Zahl nicht, annähernd sind es drei Milliarden.“
„Millionen meint er, darf ich ergebenst berichtigen, Königliche Majestät“, meldete sich Professor Simand.
„Nein, Milliarden! Drei mal tausend Millionen!“ Diese laute Antwort Erichsens hatte eine Wirkung, die er nicht erwartete.
Ein Lächeln lief über die Züge des alten Königs, der Kronprinz aber brach in schallendes Gelächter aus und gab damit das Signal zu allgemeiner Heiterkeit.
Während der ganze Hofstaat lachte und Prinz und Prinzessinnen kicherten, blieb eine, die am weitesten links einen Schritt abseits stand, vollkommen ernst und betrachtete Klaus prüfend. Sie war schlank. Ihr blondes Haupt trug sie hoch erhoben. Er erwiderte ihren Blick, und sie winkte mit den Augen zurück, ehe noch jemand die kleine Szene bemerkte.
Wie im Traum verließ Klaus den Audienzsaal. Kaum waren sie draußen, schrie Professor Simad ihn an: „Wie konnten Sie gegen mein ausdrückliches Verbot solchen Unsinn vor Seiner Majestät reden? Sie gehören in ein Sanatorium!“
„Kommen Sie doch mit auf die Erdoberfläche und überzeugen Sie sich.“
„Sie haben hier keine Vorschläge zu machen! Ich werde es ablehnen, Sie weiter zu unterrichten!“
* *
*
Die der Hauptstadt nächstgelegene Höhlenwand befand sich im Südosten. Dort entsprang das Flüßchen, welches Atakor durchfließt. Zuerst stieg das Gelände von der Stadt aus gleichmäßig an, dann türmte es sich in zwei gewaltigen Terrassen empor zur begrenzenden hohen Mauer. Wo das Plateau der oberen Terrasse an den Gebirgswall stieß, lag das Heiligtum der Erdmutter. Ihr riesiges Bild war aus dem Felsen herausgehauen und wachte seit Jahrtausenden über dem rotleuchtenden Höhlenland.
Noch während der allgemeinen Schlafzeit kam ein kleiner Transport von der Hauptstadt herauf. Vier junge Priester luden eine verhüllte Sänfte aus dem Wagen der Schwebebahn, hoben sie auf und trugen sie. Die Bahn endete nahe dem Steilabfall, das letzte kilometerweite Stück bis zum Heiligtum mußte von jedermann, ob König oder Lamahirt, zu Fuß zurückgelegt werden. Nach einer Weile setzten sie die Sänfte ab, um sich auszuruhen, und ein fünfter Mann, der hinter ihr schritt, ohne beim Tragen zu helfen, Professor Simad, lüftete vorsichtig die Vorhänge. Innen schlief Klaus Erichsen fest und zuverlässig, er hafte nichts davon gemerkt, daß man ihn in der Nacht nach der Audienz noch zusätzlich betäubte und hierherbrachte.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung
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