Das Reich in der Tiefe
Hoheit, des Kronprinzen, gefangengenommen, der in einer Viertelstunde persönlich hier eintreffen wird.“
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Der Hauptmann überbrachte Sarasola die Nachricht, Seine Königliche Hoheit bäte darum, unverzüglich von Seiner Exzellenz empfangen zu werden. Die erste Absicht des Höchsten Priesters war, den hohen Besucher mit dem Bescheid abzuweisen, er sei jetzt zu erschöpft. Das war keine Lüge, denn die Beschwörung der Traumbilder hatte seine geistigen Kräfte bis aufs letzte beansprucht, und gerade jetzt war er am allerwenigsten auf eine Auseinandersetzung vorbereitet. Aber selbst er, der Oberste Priester, konnte es nicht wagen, denn Empfang des Thronfolgers zu verweigern. Also sagte er zu, er würde ihn in seiner Wohnung erwarten.
Ayor Tupac, der Kronprinz, hatte dies alles vorausgesehen und berechnet. Die heimliche Befragung Erichsens im Turm war zu seiner Kenntnis gekommen, der Führer der Turmposten hatte es beobachtet und ihm Meldung gemacht. Ebensowenig war ihm Erichsens Entführung und die Abreise von acht Mitgliedern des Hohen Rates zum Tempel der Erdmutter entgangen. Er war erbittert über diese Eigenmächtigkeiten, die einen Bruch des Gesetzes und eine Mißachtung des Königs bedeuteten, und entschloß sich zum Gegenschlag. Ayor Tupac wußte, daß Sarasola eine durchwachte Nacht im Tempel und unerhörte psychische Anstrengungen hinter sich hatte und trotzdem nicht anders konnte, als ihn zu empfangen. Das bot die günstigsten Vorbedingungen für eine Auseinandersetzung, welche doch einmal kommen mußte. Der oberste Priester würde gehemmt sein und von seinen dämonischen Fähigkeiten der Beeinflussung keinen Gebrauch machen können.
Seit 700 Jahren war die Macht über Cheti geteilt. Nach der Lesart, die von den Priestern verbreitet wurde, deswegen, weil der König die Götter beleidigt hatte. In Wahrheit, weil das mächtige Priestertum damals einem schwachen König dieses Zugeständnis abrang. In der Folgezeit wechselten starke Herrscher, die tatsächlich wieder die ganze Macht ausübten mit schwachen, die nur ausführende Organe tatkräftiger Priester waren. Nun, er, Ayor Tupac, würde gewiß kein Schattenkönig werden, wenn er in Kürze den Thron seiner Väter bestieg. Falls es allein nach seinem Willen ginge, würde er das lästige Nebeneinander, die Teilung der Gewalt beseitigen und manches ändern, was in Cheti überständig und reformbedürftig war. Aber leider konnte er solchen Staatsstreich nicht wagen, solange er einen Gegner wie Sarasola hatte, dessen Einfluß im Volk groß war.
Sarasola, Sohn eines Hirten, verfügte über einen starken Willen und über parapsychische Gaben. Er verstand es, sich Menschen durch die Macht seines Blicks gefügig zu machen. Mehr noch, man sagte von ihm, daß sein Geist den Körper verlassen konnte, um in der Ferne auf andere einzuwirken. War es ein Wunder, daß er mit solchen dämonischen Fähigkeiten viel Anhang hatte und von einem kleinen ländlichen Götterdiener rasch zum obersten Priester des Reiches aufstieg?
Es blieb nicht anderes übrig als ihn einstweilen in seiner Stellung zu dulden, aber man mußte ihn in seine Schranken verweisen. Ayor Tupac traute sich das zu, denn er war den Künsten des Hohenpriesters nicht ausgeliefert, weil er ihnen seinen eigenen starken Willen entgegensetzte, er war immun gegen diese Magie, die er nicht für übernatürlich oder gar etwa für göttlich hielt.
Der Hohepriester erwartete den Kronprinzen auf der Terrasse seines aus gewöhnlichen Steinblöcken zusammengefügten Hauses. Sarasola ging dem Thronfolger keinen Schritt entgegen. „Sie wollen mich sprechen, Prinz Ayor Tupac?“ fragte er herablassend.
„Nun, was hat die Göttin über die Verbindung zur oberen Höhle gesagt?“ begann der Kronprinz das Gespräch.
„Die Erdmutter hat mir furchtbare Dinge gezeigt, die obere Höhle ist eine Welt des Bösen. Sie befiehlt durch meinen Mund, jede Verbindung dorthin abzubrechen, weil nur Unheil für uns daraus kommen kann. Der junge Mann, den die Expedition mitbrachte, soll getötet werden.“
„Das wußte ich im voraus. Eure Exzellenz, daß die Erdmutter durch Ihren Mund so sprechen würde“, antwortete Ayor Tupac mit einem Anflug von Lächeln. „Denn Sie versuchten ja, das Urteil schon vorwegzunehmen! Ohne Wissen Seiner Majestät und des Hohen Rates wurde von Ihnen die fanatische Sekte der Grauen, diese Mordbande, diese Kulturschande unseres Reiches zu einer
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