Das Reich in der Tiefe
Schweigen waren nur die schweren Atemzüge des Höchsten Priesters zu vernehmen, der immer noch neben der Tragbahre kniete. Die Zuschauer waren verwirrt. Sollte es wirklich irgendwo in der Welt so fremdartige Dinge am äußersten Rande der Schöpfung geben? Es mußte wohl so sein, der Hohepriester hatte ihnen gesagt, daß er heute nur Erinnerungsbilder des Schläfers sichtbar machte.
Sarasola beabsichtigte noch nicht, die Sitzung zu beenden, er wollte Antwort auf eine ganz besondere Fragestellung und konzentrierte seine ganze Kraft darauf, die Träume des Mediums dahin zu lenken. Es glückte. In den leeren Raum der Kugel malte das Licht die Schattenrisse eines zerschossenen Waldes, die Trümmer eines zerstörten Dorfes bei sinkender Nacht. Bald wurde die Illusion so täuschend und greifbar, daß die Zuschauer neben anderen Schattengestalten in Erdlöchern zu hocken glaubten. Hätten sie den Lärm von Explosionen und die Ausbrüche von Licht in der düsteren Landschaft besser zu deuten vermocht, würden sie darin explodierende Granaten erkannt haben und angreifende Panzer, denen ein Strom von Feuer entgegenschlug.
Besser verstanden sie das Bild, welches danach aufstieg. Wieder befanden sich alle in einer nächtlichen Straße, aber jetzt war es im Herzen der Großstadt unheimlich still, stiller als in einem Dorf von Cheti. Alle Lichter waren erloschen und kein Fahrzeug weit und breit zu erblicken. Nur einzelne Passanten liefen hastig, sonderbarerweise konnte man ihren Weg wie durch Glas verfolgen, in Keller, Bunker und Untergrundbahnschächte, in denen die Bevölkerung der Millionenstadt eng gedrängt und schweigend ihr Schicksal erwartete. Am Himmel kreisten die Lichtfinger vieler Scheinwerfer, plötzlich faßten sie einen dichten Schwärm von Flugmaschinen, die wie winzige Insekten ins Licht eintauchten. Von ihnen ging aber ein Inferno der Vernichtung aus, vor dem alle Vorstellung verblaßte. Häuserblocks zerbarsten und stürzten zusammen, in der Tiefe der Keller wurde vieles Leben erstickt oder vom Druck zerrissen.
Das lebende Bild verlosch unvermittelt, der Schläfer war unruhig geworden, wälzte sich auf die andere Seite. Sarasola strich mit beiden Händen über Erichsens Gesicht und brachte es fertig, ihn wieder in tieferen Schlaf zu zwingen, nicht aber, weiter in den Bahnen zu träumen, die er vorschrieb. Seine geistigen Energien waren erschöpft.
Schwerfällig erhob sich der Höchste Priester, ging zur Tür, rief die Träger und gab Befehl, Erichsen dorthin zurückzubringen, von wo er heimlich entführt wurde. Dann wandte er sich an die Anwesenden, die erst mühsam das Grauen abschütteln mußten, welches die magischen Bilder hinterlassen hatten. „Ich danke Ihnen, Weise des Hohen Rates, daß Sie meiner Einladung gefolgt sind. Vermutlich blieb Ihnen manches unverständlich, aber soviel konnten Sie erkennen, daß in der Weltgegend, aus welcher der Schläfer stammt, der Krieg, der bei uns seit vielen Jahrhunderten überwunden ist, noch immer fortlebt. Noch die letzte Steigerung der Vernichtungsmittel, die Atomwaffe, wollte ich Ihnen zeigen, aber die Götter geboten Einhalt. Die Kräfte des Schlafenden und auch die meinen sind erschöpft. Daher werde ich Ihnen erst in Atakor die genaue Deutung der Visionen geben und es Ihnen und den übrigen Mitgliedern des Hohen Rates überlassen, die Schlußfolgerungen daraus zu ziehen.“
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Beim Verladen der Sänfte mit dem Schläfer auf der Schwebebahn-Station geschah etwas Unerwartetes. Etwa zwanzig Polizeisoldaten unter Führung eines Hauptmanns traten aus dem Stationsgebäude und umstellten den Transportwagen. „Auf wessen Anordnung ist der junge Mann aus der oberen Höhle hierhergebracht worden?“ wollte der Hauptmann von Simad wissen.
„Auf Befehl Seiner Excellenz des Obersten Priesters.“
„Sie sind doch königlicher Beamter. Haben Sie gemeldet, daß Ihnen solche Anweisung zuteil wurde? Haben Sie Ihre Vorgesetzten davon in Kenntnis gesetzt, daß Sie schon im Palast von Atakor zu heimlichen Befragungen des Fremden hinzugezogen wurden?“
„Nein, ich hielt es nicht für nötig!“
„Sie sind verhaftet, Professor Simad, und werden unter Bewachung in die Stadt zurückgebracht. Den Transport des Schlafenden führen meine Leute durch!“
„Auf wessen Befehl geschieht das? Ich werde mich sofort bei Seiner Excellenz beschweren!“
„Das ist Ihnen nicht gestattet! Sie werden auf Befehl seiner Königlichen
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