Das Reliquiar
du mich, Elena?« Sie nickte. »Gut. Ich berühre jetzt deine Hand. Du spürst vielleicht ein
leichtes Kitzeln, in Ordnung?« Nicholas wäre fast aus seinem Sessel gesprungen, als er sah, wie der Professor Elena fest in den Handrücken zwickte. Doch die junge Archäologin bemerkte davon nichts und blieb ruhig liegen. Sie war innerhalb kürzester Zeit in tiefe Trance gesunken. »Ich möchte, dass du in die Vergangenheit zurückkehrst, meine Liebe, in die Zeit, als du ein Kind warst.«
Mit kindlicher Stimme sprach Elena einen Reim.
Walton wirkte sehr zufrieden. Er hatte die junge Frau richtig eingeschätzt: Sie war tatsächlich leicht zu hypnotisieren. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Jetzt möchte ich, dass du noch weiter zurückkehrst, in das Dunkel vor deiner Geburt …«
Elena schüttelte mehrmals den Kopf. Dann hielt sie inne und schien zu lauschen.
»Kehr noch weiter zurück, vor das Dunkel, in die Zeit, als du eine andere Person warst, die in einer anderen Epoche lebte. Erinnerst du dich? Wo bist du? Was siehst du?«
Elena öffnete die Augen und sah zum Fenster. »Blumen«, murmelte sie. »Viele Blumen. Ihr Duft ist betörend. Ich bin in einem Garten.«
»In welchem Garten?«
»Es ist der Garten meines Hauses«, antwortete Elena nach kurzem Zögern.
»In welcher Stadt bist du? Kannst du uns sagen, wie du heißt?«
»Ich bin in Rom, und ich heiße... Beatrice.«
Nicholas merkte plötzlich, dass er den Atem anhielt.
»Kannst du uns etwas über dich erzählen, Beatrice? Welcher Tag ist heute? Was machst du gerade?«
»Heute ist der Tag meiner Hochzeit«, sagte Elena und setzte sich auf. »Ich heirate Urbano Brandanti Malaterra.«
Venedig, 2. August 1204
Alvise Angelieri hörte dem Anführer der Söldner aufmerksam zu, als er von den Geschehnissen berichtete, sein Gesicht blieb dabei völlig ausdruckslos. Doch kaum war der Mann gegangen, konnte er einen Zornesschrei nicht länger unterdrücken und schlug mit der Faust auf den Tisch. Es existierte also gar kein Schatz! Das bedeutete, dass es keine Möglichkeit für ihn gab, die erlittenen Verluste auszugleichen. Seit Tagen beschäftigten ihn diese Gedanken, und jetzt wichen seine Hoffnungen endgültig tiefer Enttäuschung.
Das Kreuz ruhte auf einem roten Samtkissen in einer Vitrine und verlieh dem großen Salon seiner Villa neuen Glanz. Es wartete darauf, von Ranieri Dandolo bewundert zu werden, dem Sohn des Dogen, den Angelieri eingeladen hatte.
Als sie zum Salon gingen, fragte Ranieri nach Lorenzo, Angelieris ältestem Sohn, der bei den Hebriden unterwegs war. Die Handelsschiffe der Republik Venedig wagten sich bis in die Nordsee vor und machten dort der Hanse Konkurrenz.
»Inzwischen müsste er schon auf dem Rückweg sein«, sagte Angelieri. »Und ich will Euch nicht verbergen, dass er eine angenehme Überraschung vorfinden wird, wenn er nach Hause kommt. Erst vor einigen Tagen erfuhr ich von Sebastiano Faliero, dass sich seine Tochter sehr darauf
freut, meinen Lorenzo wiederzusehen...« Er unterbrach sich und fürchtete, in einem zu vertraulichen Ton gesprochen zu haben. Nach einem kurzen Hüsteln fügte er hinzu: »Was ist mit Euch? Habt Ihr Neuigkeiten von Eurem Vater?«
»Der Doge kämpft weiterhin für unsere Interessen. Wer weiß, wann er nach Venedig zurückkehrt... Ehrlich gesagt, es ist mir ein Rätsel, wo er in seinem ehrwürdigen Alter all die Kraft hernimmt.« Er seufzte. »Es tut mir leid, dass Ihr Euer schönstes Schiff verloren habt, den Stolz der Flotte. Aber ich habe gehört, dass man im Arsenal eines baut, das noch besser werden soll.«
»Das stimmt, doch der Verlust der Leone di San Marco hat mir einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden zugefügt.«
»Der Schaden betrifft nicht nur Euch, Signor Alvise.«
Inzwischen hatten sie den Salon betreten. »Dort ist das Objekt, von dem ich Euch erzählt habe«, sagte Angelieri und deutete auf die Vitrine.
Dandolo machte keinen Hehl aus seiner Bewunderung. »Ein wahrhaft eindrucksvolles Kleinod. Eins muss man Euch lassen: Ihr habt großes Geschick darin, Kunstschätze ausfindig zu machen.«
»Nun, in diesem Fall hatte ich ein wenig Glück«, erwiderte Angelieri lächelnd.
»Ich nehme an, es hat Euch viel Geld gekostet.«
»Es hat sich gelohnt. Das Objekt ist einzigartig.« Er nahm das Kreuz aus der Vitrine, damit Ranieri es aus der Nähe betrachten konnte. »Seht nur das Funkeln der Edelsteine und die kunstvolle Verarbeitung.«
»Die Goldschmiedekunst von Byzanz ist
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