Das Reliquiar
einen anderen Konflikt in ihm: den zwischen Pflichtbewusstsein und Gewissen. Ihm war klar, dass er diesen Konflikt um jeden Preis lösen musste, denn sein Leben in dieser Welt neigte sich dem Ende entgegen.
In den letzten Tagen hatte er oft an einen Satz von Napoleon denken müssen: »Sterben bedeutet nichts, aber wenn man besiegt und ohne Ruhm lebt, stirbt man jeden Tag von Neuem.« Besiegt und ohne Ruhm ... Als Enrico das Erbe abgelehnt hatte, war Lodovico nichts anderes übrig geblieben, als seinen einzigen Sohn zu versto ßen, denn das Erbe brachte eine Verpflichtung mit sich, die die Familie vor Jahrhunderten mit einem Eid eingegangen
war.Wer diese Verpflichtung leugnete, brachte Schande auf den Namen Brandanti.
Für Lodovico waren Enrico, seine Frau und ihre Tochter zu Fremden geworden.
Doch dann, nach und nach, litt sein Gewissen immer mehr unter der Last der Reue. Aus der Ferne hatte er die berufliche Laufbahn seiner Enkelin verfolgt, ohne jedoch auf ihre zaghaften Versuche einzugehen, einen Kontakt mit ihm herzustellen. Er war ungerecht gewesen, gemein und gefühllos, und er hätte es Elena nicht verdenken können, wenn sie es ihm mit gleicher Münze heimgezahlt hätte. Doch die von Enricos Ablehnung geschaffene Leere musste gefüllt werden, und dazu war nur Elena imstande. Außer ihr gab es niemanden, der die Verantwortung übernehmen und die alte Pflicht erfüllen konnte.
Lodovico schluckte zum x-ten Mal seine Medizin und rief seinen Sekretär.
Saverio Vannelli traf wenige Minuten später ein. Er schloss die Tür hinter sich, trat an den Schreibtisch aus Mahagoni und stellte fest, wie mitgenommen der Graf aussah: die Haut der knochigen Hände fast durchsichtig, dunkle Ringe unter den Augen. Einmal mehr fragte er sich, woher Graf Lodovico die Kraft nahm, der Krankheit zu widerstehen. Männer mit einer solchen Konstitution gab es kaum mehr, dachte er traurig.
»Ich habe eine wichtige Aufgabe für Sie«, sagte Lodovico.
»Ich höre.«
»Ich möchte mich mit meiner Enkelin Elena in Verbindung setzen und sie hierher ins Schloss einladen.Weisen
Sie sie darauf hin, wie schlecht es mir geht und dass ich praktisch von einem Tag auf den anderen sterben könnte. Sagen Sie ihr, dass es mein größter Wunsch ist, sie vorher noch einmal zu sehen und um Verzeihung zu bitten. Es ist sehr wichtig, dass ich mit ihr rede, bevor ich mich auf die Reise zu meinen Vorfahren und zu meinem Sohn begebe.«
Ein Lächeln erschien in der Faltenlandschaft von Saverios Gesicht. »Wenn Sie gestatten, Graf: Ihre Entscheidung freut mich.«
»Ich weiß, mein Freund. Und ich weiß auch, dass es falsch war, so lange zu warten.«
»Seien Sie unbesorgt. Bald sehen Sie Ihre Enkelin wieder.«
Der Graf lächelte.»Danke, Saverio.«
Als er wieder allein war, sackte er voller Schmerz am Schreibtisch zusammen. Hoffentlich kommt sie nicht zu spät, dachte er. Herr, gib mir die Kraft, lange genug durchzuhalten. Um mehr bitte ich Dich nicht.
7
Venedig, 30. Oktober 1204
»Warum wollt Ihr, dass ich Mitglied des Templerordens werde?«, fragte Arrigo überrascht.
»Wir haben eine Mission für Euch, und um sie durchzuführen, müsst Ihr Templer sein. Die Mitgliedschaft ist natürlich vorübergehend und endet, wenn Ihr die Aufgabe erfüllt habt. Es handelt sich um eine diplomatische Mission, und sie hat fundamentale Bedeutung für die Zukunft des Byzantinischen Reiches. Nur Ihr seid dieser Aufgabe gewachsen, dank Eurer Kenntnisse der Situation und der Verbindungen, die Ihr dort habt.«
»Ich bin kein Diplomat«, wandte Arrigo ein.
»Das wissen wir. Aber wir kennen Eure Fähigkeiten und bauen auf das Vertrauen, das Euch eine gewisse Person entgegenbringt.«
»Wen meint Ihr?«
»Theodoros Laskaris, den rechtmäßigen Thronanwärter, derzeit im anatolischen Exil.Vielleicht wisst Ihr nicht, dass viele Griechen aus ihrer Heimat geflohen sind, um sich unter seinen Schutz zu stellen und nicht den Befehlen der Franzosen und Venezianer gehorchen zu müssen. Wir beabsichtigen, in Anatolien eine byzantinische Enklave zu errichten, die sich den Heeren der Eroberer entgegenstellen und die Grundlage für eine zukünftige Rückkehr nach Konstantinopel schaffen soll. Unser Orden
ist bereit, Laskaris’ Ansprüche zu unterstützen. Allerdings traut er uns nicht vollständig. Wir brauchen jemanden, dem er uneingeschränktes Vertrauen entgegenbringt, und dieser Jemand seid Ihr, Arrigo. Ohne Euren Beitrag sind unsere Bemühungen zum Scheitern verurteilt –
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