Das Reliquiar
mit unabsehbaren Konsequenzen.«
»Das ist eine Mission, die Zeit erfordert«, murmelte Arrigo.
»Zweifellos. Aber wir sind sicher, dass Euch die Zukunft des Reiches mindestens ebenso sehr am Herzen liegt wie das Kreuz, für dessen Wiederbeschaffung Ihr Euch so sehr eingesetzt habt. Nach Erfüllung des Auftrags, von dem ich hoffe, dass Ihr ihn übernehmt, helfe ich Euch, das Kreuz von Byzanz in Euren Besitz zu bringen.« Der Commendatario legte eine Pause ein und musterte Arrigo. »Ihr seid ein ehrenvoller, tapferer Mann. Nicht von ungefähr hat man Euch als Hüter einer der heiligsten Reliquien des Christentums ausgewählt.«
Arrigo lächelte bitter. »Dieses Lob verdiene ich nicht. Immerhin ist es mir nicht gelungen zu schützen, was mir anvertraut wurde.«
»Was Eure Leistungen nicht schmälert. Bei der Verteidigung der Reliquie habt Ihr Euer Leben riskiert, und ihren Verlust kann man Euch nicht zur Last legen.«
»Ihr seid gut informiert, Signore.«
Der Templer lächelte. »Uns entgeht kaum etwas.«
Arrigo senkte den Kopf und seufzte. »Ich stehe Euch zu Diensten.«
Rom, 30. Oktober 2006
Elena warf die Zeitung auf den Stuhl und trank einen Schluck Kaffee. Es war schön, zur Normalität zurückzukehren, zu vertrauten Dingen und zur Arbeit. Alles entwickelte sich wie gewünscht – selbst Andrea schien bereit zu sein, sie in Ruhe zu lassen. Elena beschloss, sich noch fünf Minuten zu nehmen und die Stille des Morgens zu genießen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch.
»Entschuldige...«Teresa hatte sich mit den für sie typischen lautlosen Schritten genähert und brachte das schnurlose Telefon. »Ich störe dich nur ungern, aber hier ist ein Anruf für dich. Scheint wichtig zu sein«, sagte sie mit einem Gesichtsausdruck, den Elena nicht zu deuten verstand. Dann ging sie.
Widerstrebend und von einer seltsamen Unruhe erfüllt, nahm Elena das Telefon. »Hallo?«
»Guten Tag«, ertönte die etwas näselnde Stimme eines Mannes. »Ich rufe im Auftrag Ihres Großvaters an, des Grafen Lodovico Brandanti. Er hat mich gebeten, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen und Sie ins Schloss einzuladen. Bitte kommen Sie so schnell wie möglich. Der Graf ist schwer krank und möchte mit Ihnen reden. Ich fürchte, ihm bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Elena war so überrascht, dass sie einige Sekunden lang keinen Ton hervorbrachte. Etwas in ihr riet ihr, einfach aufzulegen, doch stattdessen erwiderte sie: »Entschuldigung, aber... Wer sind Sie?«
»Ich bin Saverio Vannelli, der Sekretär des Herrn Grafen. Wir sind uns nie begegnet, aber Ihr Großvater hat mir viel von Ihnen erzählt.«
»Dann wissen Sie bestimmt, dass mein Großvater schon vor Jahren alle Beziehungen zu meinen Eltern und zu mir abgebrochen hat«, erwiderte Elena. »Er hat nie auf meine Briefe geantwortet und nach dem... Unglück nicht einmal an der Beerdigung teilgenommen.«
»Ja, ich weiß«, sagte Saverio. »Aber ich weiß auch, wie sehr er sein Verhalten bereut. Ich bitte Sie, erfüllen Sie den Wunsch eines zu stolzen alten Mannes, der Ihnen immer von Herzen zugetan war.«
»Mein Großvater hat eine seltsame Art, seine Zuneigung zu zeigen«, kommentierte Elena mit gemischten Gefühlen. »Er ruft mich erst, wenn er im Sterben liegt, und macht es mir damit unmöglich abzulehnen...« Sie zögerte und atmete tief durch. »Na schön, ich komme zum Schloss. Heute am späten Nachmittag bin ich in Sandriano.«
»Wir freuen uns auf Sie. Bis bald.« Saverio Vannelli legte auf.
Elena blieb reglos sitzen, das Telefon noch in der Hand und voller Unruhe. Warum hatte sie, ohne zu zögern, zugestimmt? Jahrelang ließ ihr Großvater nichts von sich hören und lehnte jeden Kontakt ab, doch als er den Tod nahen spürte, wollte er seine Enkelin plötzlich wiedersehen und bereute sein Verhalten angeblich... Es klang nach einem Versuch, sein Gewissen reinzuwaschen.
Und wenn er es ernst meinte, sie um Verzeihung bitten wollte?
Elena schüttelte den Kopf, trank den Rest Kaffee und merkte nicht einmal, dass er kalt geworden war.
Venedig, 30. November 1204
Veronica Faliero zählte zu den am meisten beneideten jungen Frauen von Venedig, und dabei ging es keineswegs um ihre Schönheit.
Zwar trug sie ein prachtvolles Kleid aus Seide und Samt mit kunstvollen Stickereien, und ihr Gesicht verbarg sich größtenteils hinter einem Schleier, der von ihrem breiten Hut herabhing, aber der neben ihr sitzende Lorenzo Angelieri konnte nicht eine Spur von Liebreiz in dieser jungen
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