Das Reliquiar
geschickt, als ich Hilfe brauchte.«
Der Mann warf ihr einen Blick zu und nickte. »Sie ahnen nicht, wie sehr das stimmt.«
Elena blieb kaum Zeit, über diese seltsame Antwort nachzudenken, denn wenige Minuten später war das Rad gewechselt. »Ich danke Ihnen sehr, Signor...«
»Stefano Monti, zu Ihren Diensten«, erwiderte der Mann und fügte seinen Worten eine drollige Verbeugung hinzu.
»Elena Brandanti«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Helfen Sie oft jungen Frauen, die in Schwierigkeiten geraten sind?«
»Nur wenn sie so hübsch sind wie Sie.«
Elena lächelte und sah auf die Uhr. »Tut mir leid, aber ich muss weiter...«
»Natürlich. Ich bin ein paar Tage in der Gegend; vielleicht sehen wir uns wieder.«
»Ja, vielleicht... Noch einmal besten Dank und guten Abend.«
Schon nach kurzer Zeit stieß Elena auf ein Schild, das ihr den Weg zum Schloss wies, und sie folgte dem Verlauf der Straße, die sich den Hang eines Hügels emporwand. Es war zu dunkel, um den großen Park zu bewundern, der das Schloss umgab, aber als sie die letzte Kurve erreichte, erhellt vom Licht einiger Laternen, konnte sie einen Teil davon hinter dem Tor erkennen, das sich fast sofort öffnete. Elena fuhr hindurch und hielt vor dem Renaissanceflügel des Gebäudes, dem einzigen Teil des Schlosses, in dem Licht brannte. Gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts hatte sich Giacomo Brandanti dort eingerichtet, und alle seine Nachkommen waren diesem Beispiel gefolgt – deshalb musste jetzt kein Vermögen für Renovierung und Instandsetzung aufgewendet werden. Der zentrale Teil des Schlosses war inzwischen zu einem Museum geworden, für die Öffentlichkeit nach Terminvereinbarung zugänglich.
Die große Tür öffnete sich, als Elena mit ihrer Reisetasche die Treppe hochstieg, und der alte Butler Goffredo erschien auf der Schwelle. Der Anblick eines vertrauten Gesichts, in dem ein freudiges Lächeln erschien, ließ Elena ihren Schritt beschleunigen.
Die Begrüßung war herzlich. Goffredo befand sich seit so langer Zeit in den Diensten der Familie, dass er praktisch zu ihr gehörte. »Es ist spät, ich weiß«, sagte Elena. »Wie geht es meinem Großvater?«
»Leider nicht gut. Der Arzt ist erst vor Kurzem gegangen und hat ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Er schläft jetzt; vielleicht kann er Sie später empfangen. Ich bringe Sie zu Ihrem Zimmer, und anschließend können Sie zu Abend essen.«
»Danke. Du hast wie immer an alles gedacht.«
»Oh, ich bin nicht mehr der Alte«, klagte Goffredo, als sie drinnen die breite Marmortreppe hochgingen. »Aber es ist noch nicht der Zeitpunkt gekommen, mich in den Ruhestand zurückzuziehen.« Er blieb vor einer Tür stehen und öffnete sie. »Da sind wir... Der Herr Graf dachte, dass Sie vielleicht Freude daran hätten, in Ihrem alten Zimmer zu wohnen.«
Goffredo ging, und Elena trat zögernd und auch ein wenig gerührt ein. Sie sah sich um und betrachtete das Himmelbett, das ihr als Kind riesengroß erschienen war. Während sie noch Erinnerungen nachhing, klopfte jemand an die Tür.
»Herein.«
Eine weitere Erinnerung nahm Gestalt an. Marta trat ein, das Zimmermädchen, das sie damals so oft in den Armen gehalten hatte. Die Zeit war gnädig mit Marta gewesen. Das Gesicht hatte die Frische der Jugend bewahrt, und das im Nacken zusammengebundene Haar war nur von einigen wenigen grauen Strähnen durchsetzt. Bewegt schloss sie Elena in die Arme und wich dann etwas zurück, um sie anzusehen. »Wie schön, dich wieder daheim zu haben, meine Kleine«, sagte sie. »Es freut mich sehr, dass du gekommen bist, auch wenn die Umstände so traurig sind.«
»Auch mir wäre es lieber gewesen, wenn sich Großvater eher mit mir in Verbindung gesetzt hätte«, erwiderte Elena. »Ich wusste nicht einmal, dass er krank ist.«
»Seit Jahren führt er einen Kampf, von dem er jetzt begriffen hat, dass er ihn nicht gewinnen kann. Deshalb
möchte er dich an seiner Seite haben. Immerhin bist du seine Erbin.«
»Glaubst du, dass er bereit ist, mir endlich den Grund für den Bruch zwischen ihm und meinem Vater zu erklären?«
»Das wird er bestimmt«, sagte Marta. »Dieses Geheimnis wird er nicht mit ins Grab nehmen.«
Venedig, 18. Februar 1205
Nur eins fehlte Lorenzo Angelieri: Geld.
Nach der überstürzten Flucht vom Bankett und der traurigen Heimkehr hatte er sich dem väterlichen Willen zum Schein gefügt und vorgegeben, all dessen Erwartungen in Hinsicht auf die Zukunft der beiden
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