Das Reliquiar
Frau entdecken.
Und doch war sie seineVerlobte. Immer wieder warf sie ihm bewundernde Blicke zu, und dem Durcheinander um sie herum schenkte sie nicht die geringste Beachtung.
Alvise sah von Veronica zu Lorenzo, ignorierte die düstere Stimmung seines Sohns und dachte daran, dass er gleich die bevorstehende Verbindung zwischen den Angelieris und den Falieros verkünden würde – eine für beide Familien sehr einträgliche Verbindung. Mit der Zeit würde auch Lorenzo ihren großen Nutzen einsehen, da war er sich sicher.
Der Reeder stand auf, einen Kelch in der Hand, und bat um die Aufmerksamkeit der Anwesenden. »Freunde! Ich habe euch heute Abend hierhergebeten, um zwei wichtige Ereignisse mit euch zu feiern: zuerst die Rückkehr meines Sohnes Lorenzo von seiner weiten Reise in den Norden, die ihm sein erstes Kommando eingebracht hat. Und ich möchte außerdem verkünden, dass er bald das gnädige Fräulein Veronica Faliero heiraten wird. Heben wir unsere Gläser zu Ehren der künftigen Brautleute. Auf dass sie glücklich sein mögen.«
Donnernder Applaus, begeisterte Rufe und fröhliches Lachen ließen den Saal erzittern.
Und dann geschah das Unglaubliche.
Lorenzo erhob sich, kreidebleich und wie benommen von dem festlichen Chaos. Er sah erst seinen Vater an, der zufrieden lächelnd dastand, dann Veronica, die errötet war, und schließlich die Gäste, deren Blicke ihm galten und die noch immer klatschten.
Er drehte sich um und lief fort.
Als er spät in der Nacht heimkehrte, war er betrunken. Wie ein Dieb schlich er sich ins Haus und konnte sich kaum auf seinen wackligen Beinen halten. Er wollte gerade die Treppe zu seinem Zimmer emporsteigen, als plötzlich Alvise wie aus dem Nichts vor ihm erschien.
»Bist du verrückt geworden?«, rief sein Vater. »Was ist in dich gefahren? Mit deinem unvernünftigen Verhalten hast du alle vor den Kopf gestoßen und die Familie Faliero entehrt! Ich werde nicht zulassen, dass du diese Ehe über den Haufen wirfst, die ich so mühevoll arrangiert habe!«
»Ich habe Kopfschmerzen«, klagte Lorenzo. »Ich bitte Euch,Vater, lasst uns morgen darüber reden...«
»Es gibt nichts zu reden. Du wirst Veronica heiraten, deine Pflicht für den guten Namen deiner Familie erfüllen und...«
»Kann ich jetzt gehen?«, unterbrach ihn Lorenzo.
»Ja, geh schlafen«, erwiderte Alvise. »Ich hoffe, dir ist klar, dass du mich sehr enttäuscht hast.«
Lorenzo hielt sich am Geländer fest, als er die Treppe hochging und unsicheren Schrittes sein Zimmer betrat,
wo er aufs Bett sank. Ihm drehte sich der Kopf, aber der ganze Wein der Welt hätte nicht genügt, den Zorn auf seinen Vater zu betäuben oder ihm die Entschlossenheit zu nehmen, ihm den Gehorsam zu verweigern. Bevor er einschlief, schwor er sich,Veronica auf keinen Fall zu heiraten.
Bei Sandriano, 30. Oktober 2006
»Das hat mir gerade noch gefehlt!«, entfuhr es Elena verärgert und trat nach dem Wagen.
Wegen einiger Auffahrunfälle hatte sie Stunden im Stau auf der Autobahn verbracht, und jetzt, etwa zehn Kilometer vom Schloss entfernt, hatte sie eine Reifenpanne. Zu allem Überfluss musste sie auch noch feststellen, dass es an diesem Ort keinen Handyempfang gab.
Elena stellte das Warndreieck auf, nahm den Wagenheber und versuchte, die Schrauben des Rads zu lösen, die jedoch wie festgeschweißt waren. Nach etwa zehn Minuten wurde ihr klar, dass sie es allein nicht schaffte.
Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah sich um. Es war bereits dunkel geworden, und in dieser gottverlassenen Gegend war weit und breit niemand zu sehen. Besorgt fragte sie sich, wie lange es dauern würde, bis jemand vorbeikam …
Das Scheinwerferlicht in der Ferne schien die Antwort auf ihr Flehen zu sein. Der Fahrer sah das Warndreieck, bremste, noch bevor Elena winkte, und parkte seinen Sportwagen hinter ihrem Auto.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte der junge braunhaarige Mann am Steuer und stieg aus.
»Ich fürchte, ja«, erwiderte Elena. »Ich kriege die Schrauben nicht los, um das Rad zu wechseln.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte der junge Mann. Er zog die Jacke aus und krempelte die Ärmel hoch. »Das ist keine Arbeit für eine Frau.«
Elena verbiss sich eine scharfe Antwort. Unter den gegebenen Umständen erschien ihr Sarkasmus fehl am Platze – immerhin hatte sie ihre Unfähigkeit bewiesen, allein mit der Reifenpanne fertig zu werden. »Da haben Sie Recht«, sagte sie. »Gott hat Sie in dem Augenblick zu mir
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