Das Reliquiar
Vergangenheit stellen, bevor ich bereit für die Zukunft bin.«
Enzo Lovati lächelte und ließ Elenas Hand los. »Genau das tun wir Archäologen, oder? Wir enthüllen die Geheimnisse der Vergangenheit, um die Mysterien der Zukunft besser zu verstehen. Hab keine Angst zurückzusehen, meine Liebe.«
Der Kellner brachte den ersten Gang. »Hast du von deinem Sohn gehört?«, fragte Elena.
Enzo schüttelte den Kopf. »In letzter Zeit leider nicht.
Es fällt ihm bestimmt nicht leicht, mir vom Amazonas aus eine Nachricht zukommen zu lassen, aber trotzdem... Als er mir sagte, er wolle Botaniker werden, habe ich nicht gedacht, dass es ihn so weit weg bringen würde. Jetzt, da Silvia nicht mehr da ist, habe ich nur noch ihn.«
Elena senkte den Blick. Für einen Moment hing der Schatten von Enzos Frau zwischen ihnen wie früher. »Marco kann gut auf sich aufpassen«, murmelte sie.
»Ja«, pflichtete Enzo ihr bei. »Ich sollte endlich damit aufhören, mir Sorgen um ihn zu machen. Nun, bist du bereit für die Rückkehr zum Institut? Es gibt da einige Fundstücke, die du dir ansehen solltest.«
»Ich kann es gar nicht abwarten, mich wieder an die Arbeit zu machen«, sagte Elena.
6
Venedig, 25. Oktober 1204
»Euer Besuch ist mir eine unerwartete Freude«, sagte Alvise Angelieri und lächelte. »Wann seid Ihr eingetroffen?«
»Vor kurzer Zeit. Ich habe die Gelegenheit genutzt, mir die Stadt anzusehen und ihre Schönheiten zu bewundern«, erwiderte Arrigo. Er log nicht gern, aber nachdem er endlich herausgefunden hatte, dass der Reeder der Käufer des Kreuzes gewesen war, wollte er alles Notwendige tun, um es wieder in seinen Besitz zu bringen. Zum Glück kannte er Angelieri von früheren Geschäften her, und deshalb war es ihm leichtgefallen, eine Einladung zu bekommen. »Eigentlich bin ich nur auf der Durchreise. Durch Zufall habe ich erfahren, dass Ihr ein einzigartiges Beispiel der byzantinischen Kunst erworben habt, und ich würde gerne einen Blick darauf werfen, wenn Ihr es erlaubt. Auch ich bin ein Kunstliebhaber, wenn auch kein so versierter wie Ihr.«
Alvise versteifte sich. Seit dem Besuch von Ranieri Dandolo verließ das Kreuz seine Vitrine nur, wenn er es abends ins Geheimfach des Schränkchens legte. Wusste Arrigo Brandanti etwas von der Reliquie? Immerhin war er in Konstantinopel gewesen …
»Beunruhigt Euch etwas, Signore?«, fragte Arrigo, als das Schweigen des Gastgebers andauerte.
»Es handelt sich um ein sehr wertvolles Objekt, und ich …«
»Ich bitte Euch, Ihr wollt einem alten Freund doch nicht verwehren, seine müden Augen auf etwas zu richten, das angeblich ebenso eindrucksvoll ist wie die Goldschmiedekunst im Besitz des Dogen...«
Alvise musste nachgeben. Eine solche Bitte konnte er nicht zurückweisen; es wäre eine unverzeihliche Unhöflichkeit gewesen. Und außerdem schwer zu rechtfertigen.
Er führte den Besucher in den Salon und zeigte ihm das Objekt in der Vitrine. Als Arrigo das Kreuz sah, prickelte die Aufregung in ihm, aber er ließ sich nichts anmerken. »Es ist wirklich wunderschön«, sagte er schließlich.
»Wie ich sehe, seid Ihr ebenfalls beeindruckt, Graf.«
»Und wie. Für dieses Kreuz würde ich jede Summe zahlen.Wie viel verlangt Ihr dafür?«
»Euer Angebot überrascht mich und schmeichelt mir, aber ich bin nicht bereit, das Kreuz zu verkaufen«, sagte Alvise. »Darf ich fragen, warum es Euch so sehr interessiert?«
»Wie ich schon sagte, ich bewundere die byzantinische Kunst, und dies ist ein außergewöhnliches Beispiel dafür. Seid Ihr wenigstens bereit, mein Angebot in Erwägung zu ziehen? Welchen Betrag auch immer Ihr dafür gezahlt habt, ich bin bereit, ihn zu verdreifachen.«
»Ihr seid sehr großzügig, aber ich muss Euch bitten, nicht darauf zu bestehen.«
»Ich wiederhole: Ich zahle jeden Preis, den Ihr verlangt.«
»Eure Beharrlichkeit erstaunt mich«, entgegnete der Reeder. »Darf ich den Grund dafür erfahren?«
»Es geht dabei um eine Angelegenheit, die Euch nicht betrifft.Wie viel...«
»Das Kreuz steht nicht zum Verkauf!«, sagte Angelieri scharf. »Ich überlasse es weder Euch noch irgendjemand anderem.«
»Ist das Euer letztes Wort?«
»Ja. Und Ihr solltet Euch besser damit abfinden.«
Arrigo neigte den Kopf. »In diesem Fall habe ich nichts mehr zu sagen. Ich grüße Euch.«
»Ihr wollt gehen? Bleibt Ihr nicht zum Essen?«
»Ich kann nicht bleiben.Vielleicht sehen wir uns bald wieder. Entschuldigt mich.«
Arrigo eilte mit langen
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