Das Reliquiar
beteiligten Familien gerecht zu werden. Nur deshalb gelang es ihm, den Zorn zu unterdrücken und sich gehorsam zu geben, weil er hoffte, dadurch seinen Plan in die Tat umsetzen zu können: Er wollte von Venedig nach Rom fliehen.
Er hatte alle getäuscht, von seinen Eltern bis hin zur armen Veronica.
In einer Nacht, nur wenige Tage vor der Hochzeit, kam der Moment zum Handeln.
In einen Reisemantel gehüllt und mit einer großen Umhängetasche verließ Lorenzo sein Zimmer und ging zum Arbeitszimmer seines Vaters. Er trat ein und schloss die Tür hinter sich, zündete eine Kerze an und näherte sich dem Schränkchen, das Geld und Wertgegenstände enthielt. Er brauchte eine Weile, um die mit Metallbeschlägen verstärkte Tür zu öffnen, aber schließlich gelang
es ihm, mehrere Geldbeutel und einige Edelsteine an sich zu bringen.
Dann nahm er das Objekt, an dem seinem Vater besonders viel lag: ein goldenes, mit Edelsteinen besetztes Kreuz – allein dieses Kleinod war ein Vermögen wert. Nach kurzem Zögern steckte Lorenzo auch dieses Kreuz ein, schloss dann das Schränkchen und verließ das Arbeitszimmer.
Kurze Zeit später befand er sich auf der Straße und eilte zum Steg, wo ein Boot auf ihn wartete. Der Mann darin half ihm an Bord, nahm die Ruder und legte ab. Nach wenigen Minuten verschwand das Boot im nächtlichen Nebel.
»Dürfte ich erfahren, wo mein Sohn Lorenzo steckt? Hast du ihn endlich gefunden, du Idiot?«
»Signor Lorenzo ist nicht im Haus, Herr«, antwortete der Bedienstete erschrocken.
»Was soll das heißen?«, entfuhr es Alvise, und er runzelte die Stirn. Er musste dringend mit Lorenzo sprechen, um einige Details des Ehevertrags mit ihm zu klären. Sein Sohn war aufgeweckt und klug, aber manchmal konnte er sehr stur sein …
»Herr... Keiner von uns Bediensteten hat Signor Lorenzo heute Morgen gesehen.«
»Vermutlich ist er früher als sonst aufgestanden, aus welchen Gründen auch immer«, spekulierte Alvise.
Der Diener wich einige Schritte zurück. »Ich fürchte, dem ist nicht so, Herr. Euer Sohn hat nicht in seinem Bett geschlafen, und offenbar... fehlen einige Gegenstände aus...«
»Was?«, rief Alvise. Er stieß den Mann beiseite, lief los und erreichte kurz darauf Lorenzos Zimmer.
Es dauerte nicht lange, bis ein Erdbeben aus Flüchen das ganze Haus erschütterte.
Man brauchte nicht viel Fantasie, um zu begreifen, was geschehen war.
Vor dem leeren Schränkchen in seinem Arbeitszimmer blieb Alvise endlich sprachlos stehen. Anstatt Veronica Faliero zu heiraten, war Lorenzo lieber zum Dieb geworden und aus dem Haus seiner Eltern geflohen, in dem Wissen, dass er nie dorthin würde zurückkehren können.
Schmerz und Scham fielen wie eine Axt auf Alvise und ließen ihn taumeln. Dies war das Ende all seiner Träume, der Tod seiner Hoffnungen. Lorenzos Rebellion bedeutete den Ruin seiner Familie.
Als er feststellte, dass sein Sohn auch das goldene Kreuz gestohlen hatte, sank Alvise ohnmächtig zu Boden.
8
Schloss Sandriano, 30. Oktober 2006
Dem Grafen ging es sehr schlecht, und an jenem Abend erschien er nicht zum Essen. Goffredo informierte Elena und fügte bedauernd hinzu, dass die Begegnung mit ihrem Großvater auf den nächsten Tag verschoben werden müsse.
Im riesigen Speisesaal fühlte sich Elena zu allein, und deshalb fragte sie Marta: »Kann ich in der Küche essen?«
Nach einem kurzen, überraschten Zögern lächelte die Frau. »Natürlich. Dann können wir uns unterhalten.«
Goffredo, Marta und die Köchin Anna überhäuften Elena geradezu mit Aufmerksamkeit und erzählten ihr, wie das Leben im Schloss in all den Jahren gewesen war. Sie erfuhr, dass ihr Großvater bei der Nachricht vom Flugzeugunglück einen Kollaps erlitten und sich nur sehr langsam davon erholt hatte. Seit damals war es mit seiner Gesundheit nicht mehr zum Besten bestellt gewesen, und der Krebs, an dem er seit einigen Jahren litt, hatte ihm den Gnadenstoß versetzt. Äußerlich war er kraftvoll und voller Entschlossenheit geblieben, aber alle wussten: Die Trennung von seinem Sohn und schließlich dessen Tod hatten ihn aufgezehrt, vielleicht noch mehr als die Krankheit. Die wenigen Briefe, die Elena ihm vor vielen Jahren geschickt hatte, hatte er sorgfältig aufbewahrt, sich aber hartnäckig geweigert, den ersten
Schritt zu einer Wiederannäherung zu tun. Die Worte der Bediensteten beschrieben einen eigensinnigen und dickköpfigen alten Mann, und Elena stellte sich betrübt zwei Männer vor,
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