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Das Reliquiar

Das Reliquiar

Titel: Das Reliquiar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Seymour
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zu Nebbia, blieb neben ihm stehen und streichelte seine Schnauze. Dem jungen Mann hatte sie erzählt, dass sie eingeschlafen war und geträumt hatte, aber sie wusste genau, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Die Szene, die sie regelrecht »erlebt« hatte, war nicht ohne Folgen für sie geblieben. Noch immer steckte sie voller Unruhe und erinnerte sich deutlich an das Entsetzen, das sie beim Tod jenes Mannes empfunden hatte. Sie erinnerte sich an den schrecklichen Geruch der Eingeweide, die dem Sterbenden aus dem aufgeschnittenen Leib quollen, während der Mörder immer wieder mit dem Dolch zustach... Elena schloss die Augen, gefangen in den Gefühlen und Bildern, die ebenso intensiv waren wie die bei der Sitzung in Waltons Arbeitszimmer, aber noch überwältigender. Es war völlig verrückt. Beatrices Gemälde und Goffredos Schilderungen schienen die Suggestionen verstärkt zu haben, die sie in Edinburgh erfahren hatte …
    Beatrice …
    Nein, sie war nicht Beatrice. Sie konnte nicht Beatrice sein. Was bilde ich mir nur ein?, dachte Elena verärgert. Sie hatte nichts mit einer Frau gemeinsam, die so grausam gewesen war, die Geliebte ihres Ehemanns einzumauern, eines Ehemanns, den sie nicht einmal liebte. Und doch... Je mehr Elena darüber nachdachte, desto deutlicher spürte sie tief in ihrem Innern einen Strudel überwältigender
Emotionen: wilde Freude über den Tod von Porzia, die Leidenschaft für Jacopo, den Hass auf Urbano... Und vor allem Eiseskälte in der Seele, das absolute Fehlen von Reue.
    Elena schüttelte den Kopf, wie um sich von jenen Gedanken zu befreien, schwang sich in den Sattel und ritt zum Schloss zurück.

9

Nikaia (Anatolien), 10. April 1208
    »Ich weiß, dass Ihr beabsichtigt, uns zu verlassen«, sagte Theodoros Laskaris auf dem Balkon des königlichen Palastes.
    »Das stimmt, Majestät«, bestätigte Arrigo. »Inzwischen ist meine Aufgabe erledigt. Ihr seid zum Kaiser von Nikaia gekrönt worden, und ich weiß, dass Ihr die Macht in Euren Händen so gut wie möglich verwenden werdet. Euer Exil wird nicht von Dauer sein.«
    »Aber ich werde das Ende des Exils nicht erleben, denn vor meinem Tod wird es mir nicht gelingen, Konstantinopel zurückzuerobern, obgleich das mein größter Traum ist. Immerhin ist es mir mit Eurer Hilfe gelungen, einen Teil des Reiches neu zu gründen. Meinen Untertanen steht es frei, sich zu ihren Religionen zu bekennen, und die Griechen, die sich der Herrschaft der Franzosen und Venezianer entziehen wollen, haben nun die Möglichkeit, sich unter meinen Schutz zu stellen. Das alles verdanke ich Euch, mein Freund, und dem Templerorden. Eurer Rat hat mir sehr geholfen, ebenso wie Eure Freundschaft. Ich würde Euch gern dazu bewegen, für immer zu bleiben...«
    Arrigo lächelte. »Euer Angebot ehrt mich, und unter anderen Umständen würde ich es sofort annehmen. Aber …«

    »Es hat keine Eile«, erwiderte der Herrscher. »Das gegenwärtige schlechte Wetter erlaubt es Euch ohnehin nicht, die Reise bald anzutreten...«
    Der starke Regen würde irgendwann dem Frühling weichen müssen. Bald würden die Straßen wieder begehbar sein, und auch die Schiffe würden wieder in See stechen. Arrigo sah sich um. Drei Jahre hatte er damit verbracht, in diesem Landstreifen einen Teil des glorreichen byzantinischen Reiches neu zu erschaffen, die Macht der Franzosen wenigstens hier zurückzudrängen, Kriege zu führen und Allianzen zu schmieden, die ebenso nützlich wie flüchtig waren. Mit anderen Worten: Er hatte getan, was die Mission von ihm verlangte, und jetzt war er bereit, den Lohn dafür einzustreichen.
    Theodoros sah ihn wortlos an. Er wusste, dass es keine weiteren Schmeicheleien oder Versprechen gab, mit denen er Arrigo zurückhalten konnte.

Schloss Sandriano, 31. Oktober 2006
    Elenas Erinnerungen an ihren Großvater waren ziemlich vage, wie ein altes, verblasstes Foto, auf dem keine Einzelheiten mehr zu erkennen waren. Auch das Porträt im Flur des ersten Stocks konnte ihr kaum helfen, denn es zeigte ihn als viel jüngeren Mann.Vor ihrem inneren Auge sah Elena einen Mann mit dichtem eisengrauen Haar, kalten blauen Augen und einer ruhigen, aber keinen Widerspruch duldenden Stimme. Der Mensch, an den sie sich erinnerte, war außerdem sehr groß, doch damals, als kleines Mädchen, hatte sie alle Erwachsenen für riesig gehalten.

    Als sie an diesem Tag ihren Großvater nach über zwanzig Jahren wiedersah, glaubte sie, einen Fremden vor sich zu haben: ein gebrechlicher

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